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Cheng

Cheng

Titel: Cheng
Autoren: Heinrich Steinfest
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wirklich gesehen). Denken Sie nicht auch, es wäre besser, wenn wir uns miteinander unterhalten?«
    Sie zögerte kurz, dann bat sie ihn einzutreten.
    Durch einen vollkommen leeren, fensterlosen, aber hell erleuchteten Vorraum gelangte er in das Wohnzimmer. Auf dem einfachen, schäbigen Holztisch stand eine Flasche Rotwein, daneben ein halbvolles Glas und ein Aschenbecher, in dem einige Kippen lagen. Merkwürdigerweise hing über dem Tisch ein langgezogener Billardlüster. Bloß aus einem der drei grünen Glasschirme strömte Licht. Außer zwei Stühlen mit grauem Anstrich, einem Servierwagen aus den Fünfzigern, auf dem eine einsame Flasche Bananenlikör stand, und einem auf einer Espressomaschine plazierten, abgeschalteten Laptop befand sich in dem Raum nur noch eine mit schwarzen und rotschwarzen Kostümen behängte Kleiderstange. Cheng setzte sich auf einen der Stühle und zündete sich eine Zigarette an. Die Frau lehnte sich an den Türpfosten (was am Eindruck der Steifheit nichts änderte), ihre Arme wie zur Abwehr vor der Brust verschränkt.
    Cheng nahm einen tiefen Zug (er fühlte sich gewissermaßen am Anfang der letzten Runde) und fragte sie, ob diese Sache mit dem Finger etwas mit Vererbung zu tun habe.
    »Auf eine sehr tragische Weise hat es das. Aber die Frau, die Sie suchen, ist nicht meine Enkelin. Maria ist seit vielen Jahren tot.«
    Mit einer schnellen Bewegung (als reiße sie ein Kalenderblatt herunter) zog sie den schwarzen Handschuh von ihrer rechten Hand und betrachtete die Stelle, an der ihr kleiner Finger fehlte. Dann erzählte sie Cheng die Geschichte. Der Finger war sozusagen eine bleibende Erinnerung an den Herrn Doktor Geissler. Sie hatten ihn den Operateur genannt, und das war zunächst nicht auf seine Fähigkeiten in der Ars medicina gemünzt, sondern auf seine scheinbaren Qualitäten als Stratege widerständischer Aktivitäten. Neunzehnvierzig war das gewesen, Maria Baumann gehörte einer kleinen Gruppe von Medizinstudenten an, Kinder aus guten arischen Häusern. Keiner war je durch politische Eskapaden aufgefallen, sie galten als angepaßte Karrieristen. Nun, das stimmte zwar nicht, aber ihr Widerstand, ihre antifaschistische Gesinnung war von großbürgerlicher Harmlosigkeit. Ihre konspirativen Treffen entbehrten nicht einer gewissen Komik – das kleinlaute Aufbegehren politisch völlig unbedarfter Leute, deren Ekel vor den Nazis sich im Grunde über den eigenen Standesdünkel definierte.
    Das Laute, das Proletenhafte stieß sie ab, die Volkstümelei, die Hysterie der Massen, die plebejische Marschiererei, die Macht der Kleinbürger, dieser Choleriker aus Braunau, den man auf der Kunstakademie nicht hatte haben wollen. Es war vor allem die Kunstfeindlichkeit, die sie abstieß. Mehr als der Krieg erregte sie etwa das Schicksal des ausgebürgerten Thomas Mann oder die Verunglimpfung der Zwölftonmusik, und sie hielten es für besonders wagemutig, kleine Abbildungen von Gemälden Kandinskys zu besitzen – sie leisteten sich ganz außerordentliche Lächerlichkeiten. Das änderte sich, als Geissler zu der Gruppe stieß. Er war der Messias, der sie aus ihrer bourgeoisen Ängstlichkeit herausholte, der charismatische Revolutionär, der einem das Gefühl gab, bei guter Planung müsse niemand den Märtyrertod sterben. Sie waren phantastische Idioten und ließen sich von Geissler geradezu an der Hand führen – Flugblattaktionen, kleine Sabotageakte, Unterstützung untergetauchter Antifaschisten. Es war beinahe wie ein Spiel. Am Abend saß man wieder am Tisch der Familie und tat gelangweilt, wenn die Sprache auf die Nazis kam. Nun war der Kontakt und das Vertrauen der diversen Widerstandsgruppen untereinander katastrophal. Entgegen nachträglichen Beschönigungen war es doch so, daß man lieber Verrat trieb, als sich gegen die Nazis zusammenzuschließen. Die Gruppe um Geissler, die ohne konkrete politische Wurzeln auskam, galt als eher anglophildekadent, so eine Art antifaschistischer Kricketclub (wie sich das etwa Visconti vorgestellt hat), aber nachdem die Gruppe – dank eines Zufalls, der keiner war – einem bedeutenden Mitglied des kommunistischen Widerstands geholfen hatte unterzutauchen, kam es notgedrungen zu Kontakten mit den Kommunisten, immerhin versteckte man gerade einen ihrer Leute. Der Mann sollte dringend nach Moskau. Geissler versorgte ihn mit gefälschten Papieren, die er angeblich einem befreundeten Graphiker verdankte. In Wirklichkeit kamen sie backfrisch aus einer
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