Cherubim
verging. »Das kannst du nicht mit Sicherheit wissen. Wenn ich gestern abend bei ihr gewesen wäre, hätte ich ihre Tat vielleicht verhindern können.«
»Klar!«, mischte sich Arnulf ein. »Und dann hättet Ihr sie fortanjeden einzelnen Tag auf Schritt und Tritt begleitet, um sie von Dummheiten abzuhalten!«
Seine spöttischen Worte machten Katharina begreiflich, dass sie sich wieder einmal zu viel Verantwortung auflud. Ihr Verstand wusste das, aber ihr Herz sagte ihr dennoch, dass sie sich schuldig zu fühlen hatte. »Ich möchte mit ihr reden«, hörte sie sich sagen.
Richard nickte. Er sah aus, als habe er es kommen sehen. »Man lässt dich womöglich nicht allein bis zu ihr. Ich begleite dich!«
Arnulf machte ein dumpfes Geräusch in der Kehle, und Richard sah ihn an. »Du musst nicht mitkommen!«, meinte er. »Du hast sie einmal gesehen, das reicht wahrscheinlich.«
Arnulf schien ernsthaft geneigt zu sein, dieses Angebot anzunehmen. Er nickte sogar, doch dann besann er sich offenbar eines anderen. »Ich komme mit, aber ich warte draußen«, entschied er.
Richard nickte ihm zu. »Danke.«
»Schon klar.«
Und gemeinsam machten sie sich auf den Weg zum Narrenhäuslein im Luginsland.
Der Eisenmeister war ein dürrer, ungepflegter Mann, in dessen Nasenhaaren getrockneter Rotz hing und der mit einem lahmen Bein mühsam vor ihnen her die Treppen hinaufhinkte.
»Was wollt Ihr schon wieder hier?«, brummelte er an Richard gewandt. »Reicht Euch Euer Besuch von eben nicht?«
Richard antwortete ihm nicht, und Katharina spürte den reichen Patrizier in ihm, den er sonst so gut zu verbergen wusste. Doch als der Eisenmeister seine Frage wiederholte, seufzte er leise. »Ich bin nur als Begleitung für diese Frau hier.«
Das schien dem Mann zu reichen. Bevor er die Tür für sie beide geöffnet hatte, hatte er Katharina von Kopf bis Fuß gemustert. Er schien zufrieden gewesen zu sein mit dem, was er sah, denn er hatte zustimmend genickt und dann für sie aufgesperrt.
Jetzt führte er sie an all den anderen Zellen vorbei bis in die Spitze des Turmes, wo sich eine Art vergitterte Nische befand. Darinnen hockte Maria auf dem Fußboden. Sie hatte den Rücken gegen die Mauer gelehnt, die Knie angezogen und den Kopf darauf abgelegt.
Als sie die Schritte hörte, die sich ihr näherten, blickte sie auf.
»Katharina«, murmelte sie nur. Mehr nicht.
Katharina trat vor das Gitter hin. Sie war sich der Gegenwart Richards sehr bewusst, der nun ein wenig Abstand hielt, aber nahe genug bei ihr stand, um jedes Wort mit anhören zu können. Katharina holte Luft. Wie nur sollte sie Maria so den Grund erklären, warum sie gestern Abend nicht zu dem vereinbarten Treffpunkt gekommen war? Sie durfte Richard nicht hier und nicht auf diese Weise mit dem Furchtbaren konfrontieren.
Als Katharina das klarwurde, fehlten ihr plötzlich die Worte. Was sollte sie Maria sagen, wenn sie ihr keine Erklärung geben konnte?
»Es tut mir so leid, Maria«, war das Einzige, was ihr einfiel.
Maria schnaubte böse. »Ich heiße Mirjam!«, fauchte sie. Ihre Stimme hatte nichts Vertrautes mehr. Sie klang hasserfüllt. Zornig.
Besessen.
»Es gab einen Grund, warum ich gestern nicht bei dir sein konnte.« Warum nur , schoss es Katharina durch den Kopf, suchen wir Entschuldigungen für unser Tun? Um von jenen, denen wir Böses angetan haben, Vergebung zu erlangen? Oder doch eher, um uns selbst vorzumachen, dass wir gar nicht so schlecht sind, wie wir uns verhalten haben? Dass wir Opfer der Umstände sind.
Fast hätte sie aufgelacht.
Opfer der Umstände!
Wohl eher ein Spielball Gottes, dessen ach so weiser Ratschluss ihr in diesem Moment eher wie die kindliche Faszination am Quälen vorkam. Warum nur ließ Er sie über Monate um Egbert trauern, nur um ihren Mann genau in jenem Augenblick wieder auftauchen zu lassen, in dem sie sein Fehlen verwunden und sich einer neuen Liebe zugewandt hatte? Sie dachte an Bruder Johannes’ Worte.
Ja, Gottes Wege waren wahrhaftig unergründlich!
Doch sosehr sie sich auch bemühte, es gelang ihr nicht, sich ergeben in ihre Situation zu schicken. Plötzlich verspürte sie einen Zorn in sich, dessen Kraft sie überraschte. Und – es bereitete ihr Unbehagen, das zu bemerken – plötzlich konnte sie Marias Tat nachvollziehen.
Sie verspürte ebenfalls den Wunsch, etwas zu zerstören. Laut aufzuschreien und zuzuschlagen. Sie ballte die Rechte zur Faust.
»Ich weiß, was man dir über all die Jahre hinweg angetan
Weitere Kostenlose Bücher