Cherubim
er hat ihr den Dolch entwinden können, genau in dem Moment, in dem wir auftauchten.«
Katharina erwachte mit dem Gefühl, dass nur wenige Augenblicke vergangen waren, seit man sie niedergeschlagen hatte. Dennoch befandsie sich nicht mehr in dem kargen Gang, sondern in dem Gemach der Priorin.
Sie lag auf einem schmalen Bett, und sie konnte sich nur schwerlich rühren. Jemand hatte ihr Hände und Füße gefesselt.
Jemand.
Die Priorin!
Sie stand vor dem Bett und drehte etwas in den Händen, das Katharina aus ihrer Position heraus nicht zu erkennen vermochte.
»Was habt Ihr vor?«, ächzte sie.
Ein wehmütiges Lächeln glitt über Kunigundes Gesicht. »Was glaubst du?«
Katharina wand sich in ihren Fesseln. Ein dumpfer Schmerz ging von ihrer Schläfe aus, und ihre Finger begannen zu kribbeln, weil die Fesseln ihr das Blut abschnürten.
»Ich werde Euch eine Geschichte erzählen«, sagte Kunigunde. »Die Geschichte von einer jungen Frau und einem jungen Mann.«
»Eure Geschichte«, vermutete Katharina.
»Genau! Ihr wolltet sie doch hören: meine Geschichte, nicht wahr?«
Bring sie zum Reden! , dachte Katharina. So lange sie redet, tut sie nichts anderes! Also nickte sie so eifrig, wie sie es vermochte.
»Es ist eine traurige Geschichte«, sagte die Priorin. »Sie beginnt in jenem Jahr, in dem die Reichsstadt Nürnberg Markgraf Albrecht besiegte und ihn dazu zwang, all die Gebiete, die er zuvor erobert hatte, zurückzugeben. Das war im Jahr 1450.« Kunigunde sah Katharina herausfordernd an, und Katharina beschloss, das Spiel, das die Priorin begonnen hatte, so lange wie möglich mitzuspielen.
»Eurem Geburtsjahr«, vermutete sie.
Zufrieden nickte Kunigunde. »In der entscheidenden Schlacht am Pillenreuther Weiher verlor mein Vater sein Leben, und er ließ eine umfangreiche Familie zurück. Meine Mutter, die kurz darauf an gebrochenem Herzen starb. Meinen älteren Bruder, mich und unsere sieben kleineren Geschwister.«
Katharina nickte. »Was geschah mit ihnen?«
»Die beiden Jüngsten starben noch im selben Jahr, Isolde, die direkt nach mir geboren wurde und die mir die Liebste war, kurzeZeit später. Mein Bruder und ich konnten sie einfach nicht ausreichend ernähren, obwohl wir beide arbeiteten bis zum Umfallen. Sie wurden krank, und wir konnten nichts dagegen tun.«
Was ist nun mit Eurem Spruch von Gottes unergründlichen Wegen? , dachte Katharina verächtlich.
Kunigunde zog missbilligend die Augenbrauen zusammen, und fast schien es Katharina, als habe die Priorin plötzlich die Fähigkeit, Gedanken zu lesen.
Ihre Gedanken flogen zu Richard und den anderen. Ob sie ahnten, in welch gefährlicher Lage sie sich befand? Sie konnte es nur hoffen!
Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Kunigunde, die weitersprach. »Kaum zwei Jahre nach dem Tod meiner Eltern waren nur noch Raphael, ich und ein jüngerer Bruder namens Erich übrig. Erich war noch sehr klein gewesen, als Mutter und Vater gestorben waren, und er begriff nicht, dass Raphael und ich nicht seine Eltern waren. Er bestand darauf, uns Mama und Papa zu nennen, und irgendwann gaben wir es auf, ihn zu korrigieren. Wir lebten ja ohnehin wie eine kleine Familie zusammen. Raphael arbeitete als Tagelöhner auf den Feldern der Bauern, ich sponn und webte und versuchte so, seinen mageren Verdienst ein wenig aufzubessern. Manchmal kam Raphael abends nach Hause, und ich empfing ihn wie eine Ehefrau. Ich kochte das Essen, ich wusch für ihn.«
Katharina ahnte bereits, was jetzt kommen würde, und sie täuschte sich nicht.
»Und eines Tages geschah es, dass wir uns vergaßen.« Kunigundes Worte hingen in der Luft.
Katharina verspürte ein furchtbares Bedauern für diese Frau, und die Intensität dieses Gefühls verwirrte sie. Warum empfand sie keinen Zorn, kaum Angst?
Kunigunde hob die Rechte und zeigte ihr, was sie in den Fingern hielt. Gleichzeitig fasziniert und distanziert erkannte Katharina, was es war.
Eine Haarnadel.
Ungefähr doppelt so lang wie ein Finger und dünn wie eine Ahle. Perfekt geeignet, um jemandem damit die Augen auszustechen.
Die Gedanken rasten durch Katharinas Geist, doch noch immer blieb die Angst ein fernes, nebelhaftes Gefühl. Wieder war ihr, als trete sie aus ihrem Körper, als sehe sie sich selbst von oben herab auf dem Bett liegen.
Das Bild von Richard schoss ihr durch den Kopf, wie er dastand und mit dem schmalen Federmesser und dem Schädel demonstrierte, wie Heinrich getötet worden war. Sie sah das Funkeln der
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