Cherubim
Messerspitze, und auf einmal, als habe sich ein Damm geöffnet, überfiel die Angst Katharina mit voller Wucht. Bittere Galle schoss ihr in der Kehle nach oben. Sie unterdrückte ein Würgen.
In Kunigundes Augen erschien ein zufriedenes Lächeln. »Wir vergaßen uns, Katharina, weißt du, was das bedeutet?«
Katharina schluckte gegen den bitteren Geschmack in ihrem Mund an. Fieberhaft suchte sie nach den richtigen Worten, und sie entschied sich dafür, es mit dem Ausdruck zu umschreiben, den die Bibel benutzte. »Ihr erkanntet Euch.«
»Wir erkannten uns.« Das Lächeln auf Kunigundes Gesicht vertiefte sich, erreichte ihre Mundwinkel und zog sie nach oben. Es sah unheimlich aus, wie eine Maske. »Wir lagen beieinander, ja. Und ich empfing.«
Katharina schloss die Augen. Kunigunde hatte mit ihrem eigenen Bruder ein Kind gezeugt.
»Und weil diese Sünde so unaussprechlich war, strafte Gott uns. Er strafte Raphael und mich und auch die Kleinen.«
Katharina wollte eine Frage stellen, doch dann drang die Bedeutung dessen, was sie soeben gehört hatte, in ihr Bewusstsein. » Die Kleinen?«, hakte sie nach.
Kunigunde nickte. Ihre Augen glitzerten jetzt, als habe ein schweres Fieber sie erfasst. »Ich gebar Zwillinge. Ein Mädchen und einen Jungen.«
Und mit einem Mal begriff Katharina.
»Heinrich!«, keuchte sie. »Und Dagmar.«
»Du bist so klug!«, flüsterte Kunigunde. »Genau!«
»Was war es für eine Strafe, von der Ihr spracht?« Katharina bemühte sich, eine etwas bequemere Position einzunehmen. Vergeblich. Inzwischen kribbelten auch ihre Füße.
»Später! Lass mich der Reihe nach weitererzählen. Als ich bemerkte, dass ich schwanger war, verließ ich Raphael. Er hat nie erfahren, dass er Vater war. Ich gebar die Kinder ganz allein in einem Schuppen vor den Toren der Stadt.« Kunigunde schauderte bei dem Gedanken daran, und Katharina konnte es ihr nachempfinden. Völlig auf sich gestellt, ohne Hilfe und Zuspruch zwei Kinder zur Welt zu bringen: Wie musste sie sich gefühlt haben!
»Dann überlegte ich, was ich tun sollte. Eine schwere Sünde hatte ich bereits auf meine Schultern geladen, ich war nicht bereit, dem eine noch schwerere zuzufügen.«
Sie sprach von Kindsmord. Eine eisige Hand strich Katharina über ihr Rückgrat.
»Ich setzte die Kinder aus, und weil ich wusste, wie schwierig es war, ein Zuhause für zwei hungrige Mäuler zu finden, trennte ich sie. Das Mädchen legte ich auf die Stufen der Katharinenkirche, den Jungen brachte ich in den nördlichen Teil der Stadt und legte ihn vor das Haus einer reichen Patrizierin.« Die Priorin lachte auf. »Offenbar jedoch hatte Gott beschlossen, dass die beiden nicht getrennt voneinander aufwachsen sollten. Sowohl die Nonnen von St. Katharina als auch die reiche Vettel brachten die Kinder in das Findelhaus an der Schüdt. Und dort wuchsen die beiden auf wie Geschwister. Sie fühlten sich wie Geschwister, aber sie erfuhren nie, dass sie in Wirklichkeit auch Geschwister waren.«
Katharina musste an Cornelius denken, an den Bettler, den sie in Heinrichs Unterschlupf angetroffen und der ihr erstmals von Dagmars Existenz erzählt hatte. War nur so ’ne Art Schwester , hatte er gesagt.
Welch Hohn!
»Nachdem ich meine eigenen Kinder ausgesetzt hatte, haderte ich eine Weile mit mir selbst, doch dann entschied ich mich, ins Kloster zu gehen, um für meine Sünden zu büßen. Auf diese Weise kam ich nach St. Katharina, wo ich innerhalb weniger Jahre zur Priorin aufstieg. Ich nahm es als Zeichen. Als Zeichen dafür, dass Gott mir verziehen hatte.«
»Aber dann geschah etwas«, vermutete Katharina, »das Euch zeigte, dass dem nicht so war.«
»Nicht sofort. Zunächst geschah nur eines: Raphael suchte mich, und schließlich fand er mich auch. Wir redeten ein paarmal im Torhäuschen. Er hatte nie begreifen können, warum ich fortgegangen war, aber ich erzählte ihm nichts von seinen Kindern. Im Kloster hatte niemand eine Ahnung von meiner Sünde, und ich hatte auch vor, es sich damit bewenden zu lassen. Doch dann geschah das eben von Euch Vermutete.«
Plötzlich setzte sich das Bild mit solcher Klarheit zusammen, dass Katharina nach Luft schnappen musste.
»Dagmar kam und bat um Aufnahme ins Kloster!« Sie war ganz sicher, dass es so gewesen sein musste. Nur zu gut erinnerte sie sich an Marias Worte.
Ausgerechnet jetzt musste ihr das passieren, wo sie endlich mit sich selbst im Reinen gewesen ist. Sie wollte nämlich ins Kloster gehen ...
Bedächtig
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