Cherubim
flach und ängstlich. »Einen ... Mann. Nun habe ich erfahren, dass hier in dieser Ruine eine Leiche gefunden wurde, und da wir uns hier ganz in der Nähe des öfteren getroffen haben, dachte ich ...« Sie verstummte. Unter den Haarsträhnen, die aus ihrer Haube hervorlugten, blickte sie die Wache an und spürte, wie sich in ihr etwas verkrampfte. Sag nein!, bat sie insgeheim. Schick mich weg!
Aber der Mann nahm nur die Hand vom Griff seines Schwertes und hob sie Katharina entgegen. »Es ist kein schöner Anblick«, meinte er. »Seid Ihr sicher, dass Ihr ...«
Nein!, dachte Katharina, doch sie hörte sich sagen: »Ich muss wissen, ob er es ist!« Inzwischen schmerzte ihr Magen mit greller Macht. Bruder Johannes’ Worte hallten in ihrem Kopf wider. Keine Flügel diesmal ...
Katharina biss die Zähne zusammen. Panik griff nach ihr und schnürte ihr die Luft ab. »Es ist wohl besser ...«, begann sie und schob einen Fuß ein Stück rückwärts.
Doch die Wache nickte gleichzeitig. »Die Leiche liegt da hinten. Aber fasst sie nicht an, ja?« Der Mann deutete über die Schulter. »Ihrmüsst zwischen den beiden v-förmigen Balken hindurch. Seht Ihr sie?«
Wie eine Puppe nickte Katharina. Und wie eine Puppe, die von einem übermächtigen Spieler gelenkt wurde, tat sie einen Schritt vorwärts.
Sie bückte sich unter den beschriebenen Balken hindurch. Unwillkürlich hatte sie die Augen zugekniffen. Ein leichter Brandgeruch stieg ihr in die Nase, vermischt mit dem klaren Aroma der kalten Winterluft. Und dann glaubte sie einen vertrauten Geruch wahrzunehmen.
Saurer Männerschweiß, wie Heinrich ihn ausgeströmt hatte. Ungewaschene Haut und Kleidung. Kot und Urin.
Katharina blieb stehen, ohne die Augen zu öffnen. Mit der Rechten tastete sie nach einem Halt, und ihre Hand stieß gegen den verkohlten Balken. Seine Oberfläche fühlte sich unter ihren Fingerspitzen gleichzeitig rau und seifig an. Sie umklammerte ihn, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass sie sich mit Ruß beschmierte.
Dann, ganz langsam, öffnete sie die Augen.
Und krallte die Fingernägel in das vom Feuer weiche Holz.
Kurze Zeit später überquerte sie die Pegnitz auf einer der schmalen Holzbrücken, die auf die Insel Schüdt führten. Sie lief an dem langen Bretterzaun entlang, der die Schießplätze der Eibenschützen umgab. Links von ihr floss träge das Wasser des Flusses, und an seinen Ufern hatte sich eine Eisschicht gebildet. Das hielt jedoch die zwei Schwäne nicht davon ab, draußen auf dem Wasser ihre Kreise zu ziehen. Bei ihrem Anblick blieb Katharina abrupt stehen. Sie fühlte sich, als habe sie eines der Geschosse der Eibenschützen getroffen. Ihre Knie zitterten so stark, dass sie sich an einem Baumstamm abstützen musste.
Anders als der verkohlte Balken in dem abgebrannten Haus, in dem sie sich eben noch befunden hatte, war dieses Holz unter ihren Fingern borkig. Sie zog sich einen Splitter in die Haut. Schmerzhaft zuckte sie zurück, hob die Hand an den Mund und versuchte, mit den Zähnen das winzige Stück Holz aus ihrem Fleisch zu ziehen.Dabei konnte sie den Blick nicht von den Schwänen lassen. Das Bild von Matthias’ verstümmelter Leiche blitzte vor ihrem inneren Auge auf, die großen weißen Flügeln, die unter seinem Leichnam hervorragten.
Katharinas Arm, mit dem sie sich an den Stamm stützte, gab nach, und sie konnte sich nur vor dem Taumeln bewahren, indem sie sich mit der ganzen Schulter gegen den Baum lehnte. Eisig drang die Kälte durch ihren Mantel.
Ein anderes Bild überlagerte das ihres toten Bruders. Eines, das sie soeben erst gesehen hatte.
Keine Flügel diesmal ...
Bruder Johannes hatte recht gehabt. Diese Leiche besaß keine Flügel. Dafür hatte man dem Toten beide Augen ausgestochen. Das furchtbare, mit breiten roten Streifen verschmierte Gesicht vertrieb das Bild der geflügelten Leiche, und sie wimmerte auf.
Ihre Ahnung hatte sie nicht getrogen. Der Tote war tatsächlich Heinrich gewesen!
Sie atmete tief durch, dann versuchte sie sich zu vergewissern, ob ihre Beine sie tragen konnten. Vorsichtig löste sie sich von dem Baum. Sie fühlte sich schwindelig und elend, und so sank sie an dem Stamm nach unten zu Boden. In Gedanken kehrte sie zum gestrigen Abend zurück, zu jenem Moment, in dem sie Heinrich in der Ruine hatte aufsuchen wollen. Zu jenem Moment, in dem die verhüllte Gestalt ihr entgegengekommen und mit so furchtbar eiligen Schritten über das Pflaster gehetzt war.
Konnte es sein, dass
Weitere Kostenlose Bücher