Cherubim
diese Gestalt Heinrichs Mörder gewesen war?
Die Übelkeit in ihrem Leib verstärkte sich um ein Vielfaches. Sie würgte, aber da sie seit längerem kaum etwas gegessen hatte, übergab sie sich nicht. Die Kälte des Bodens drang durch ihren Rock in ihr Fleisch, und ihre Zähne fingen an zu klappern. Sie zog die Knie vor die Brust und umklammerte sie mit beiden Armen.
Der Mantel der Gestalt hatte teuer ausgesehen, und auch die Schuhe, die auf dem Pflaster so deutlich zu hören gewesen waren, deuteten auf jemand Wohlhabendes hin. Heinrich war nur ein Bettler, ein armer Tropf, der in einem Findelhaus aufgewachsen war.
Warum sollte ein reicher Nürnberger Bürger ihn getötet haben?
Katharina legte den Kopf auf die Knie. Die Gestalt war aus Richtung der Brandruine gekommen, oder etwa nicht? Doch die Ruine lag nicht in einer Sackgasse. Es konnte ebensogut sein, dass der Mann, zufällig gerade aus einem anderen Stadtviertel kommend, dort vorbeigegangen war und mit der ganzen Sache überhaupt nichts zu tun hatte.
Katharina lockerte ihren Griff um die Knie ein wenig, hob den Kopf aber nicht wieder. Das angestrengte Nachdenken hatte ihre Übelkeit zurückgedrängt, und bald wurde ihr die Kälte des Bodens unangenehm. Sie sah hoch. Dann legte sie die Hände gegen den Baumstamm in ihrem Rücken und stemmte sich auf die Füße.
Einen Moment stand sie schwankend da, doch dann hatte sie sich wieder in der Gewalt.
Ein Mord auf Stadtgebiet bedeutete eine empfindliche Störung der gottgewollten Ordnung, das wusste sie. Es war die Aufgabe des Lochschöffen, diese Ordnung wiederherzustellen und den Mörder zu finden.
Katharina richtete den Blick auf den Fluss, wo die beiden Schwäne in diesem Moment um eine Biegung schwammen und damit ihren Blicken entzogen wurden. Sie atmete erleichtert aus. Dann versuchte sie sich daran zu erinnern, wie der amtierende Lochschöffe hieß.
Goldschmidt? Messingschläger?
So ähnlich.
Zu ihm würde sie gehen und ihm erzählen, was sie gesehen hatte.
5. Kapitel
Richard Sterner mochte Nürnberg, wenn es geschneit hatte. Alles sah dann so sauber aus, und vieles von dem Schmutz und Elend, das die Stadt ausmachte, wurde durch die kalte, weiße Decke den Blicken entzogen. Er mochte es, morgens aus dem Haus zu gehen und anhand der Spuren erkennen zu können, wer schon vor ihm dagewesen war. Die Pfotenabdrücke der Nachbarskatze wurden überlagert von den Abdrücken schwerer, genagelter Stiefel, neben denen eine gleichmäßige Spur aus kleinen viereckigen Löchern herführte. Der Nachtwächter mit seiner auf ein Kantholz aufgesteckten Laterne. Eine Reihe kleinerer Abdrücke mit schmalen Absätzen, die auf eine Frau schließen ließen. Doch die typische Schleifspur eines schweren Winterrockes fehlte. Richard schloss auf irgendeine Dienstmagd, die schon früh unterwegs gewesen war, um ihre Herrschaften mit frischem Brot oder anderen Annehmlichkeiten zu versorgen.
All das ließ er auf sich wirken, als er die Stufen des Haussteines nach unten schritt. Hinter ihm schloss Thomas, der neue Diener, den er vor kurzem eingestellt hatte, die Tür.
Der Schnee knirschte hörbar unter Richards Füßen. Tief sog Richard die kalte Winterluft ein und zog den Kragen seines Mantels fester um den Hals. Sein Atem stand als weiße Wolke vor seinem Gesicht, und er schloss den Mund, weil die Kälte ihn husten ließ. Als er durch die Nase einatmete, klebten deren Flügel zusammen.
Er war froh über den früh hereingebrochenen Winter. Die Kälte erleichterte es den Nürnbergern, die Erinnerung an den vergangenen, glühendheißen August hinter sich zu lassen. Und sie vertrieb die letzten Reste düsterer Erinnerungen auch aus seinem eigenen Kopf. In seinen Alpträumen war es stets Sommer gewesen. Frühling oder Herbst. Niemals jedoch Winter. Der Winter war die Zeit, in der die Dämonen ihn kaum quälten.
»Guten Morgen, Herr Sterner!« Ein junger Stiefelputzer, der rings um die Tuchgasse sein Revier hatte, grüßte Richard im Vorbeigehen. Er tippte sich an die Mütze, und die schwere Holzkiste, die er wie einen Bauchladen vor sich geschnallt hatte, kam ins Wanken dabei. Rasch fasste der Junge zu, um ihn vor dem Kippen zu bewahren. »Ihr braucht nicht etwa jemanden, der Euch die Schuhe putzt?« Er fragte das jedesmal, wenn er Richard begegnete, und jedesmal lehnte Richard dankend ab.
»Ich habe einen Diener, Benedikt, und das weißt du. Guten Morgen übrigens auch dir.«
»Wohin des Wegs um diese frühe Stunde?« Der
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