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Cherubim

Cherubim

Titel: Cherubim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Lange
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trinken!«
    Dankend nickte Richard ihm zu, dann erklomm er endlich die Stufen und trat an den Rand des goldverzierten Brunnens.
    Er beugte sich über das Wasser, um ein wenig davon in seine hohle Hand zu schöpfen. Doch bevor seine Finger die ruhige Oberfläche berührten, hielt er inne und starrte sie an.
    Sie zitterten noch immer.
    Sie zitterten so stark, wie sie es seit Monaten nicht mehr getan hatten.
    Stöhnend rieb Richard sich über das Gesicht. Schweiß netzte seine Fingerspitzen. Wie hatte er glauben können, dass er sich wieder mit Leichen befassen konnte, ohne dass die alten Ängste und Alpträume ihn erneut überfallen würden? War er tatsächlich so dumm gewesen?
    Er lauschte in sich hinein und starrte dabei auf seine zitternden Finger. Dicht vor seinen Augen ballte er die Hand zur Faust, und dann tauchte er sie in das kalte Wasser. Seine Haut begann sofort zu brennen, doch er ignorierte den Schmerz, hielt ihn aus. Hieß ihn willkommen.
    Langsam öffnete er unter Wasser die Hand, bewegte sie sacht hin und her. Plötzlich sah er blutige Schlieren in dem klaren Wasser.
    Er prallte zurück, doch etwas zwang ihn, noch einmal in das Wasser zu schauen. Fort waren die Blutschlieren.
    Er presste die Zähne zusammen, dass seine Kiefermuskeln anfingen zu zittern. Etwas regte sich in seinem Hinterkopf, wieder war da ein Gedanke, so vage und flüchtig. Der Türmergehilfe, das war das Einzige, was er zu fassen bekam, und er musste sich zwingen, sich daran zu erinnern, was es mit dem Jungen auf sich hatte.
    Im August, kurz vor den Ereignissen, die der Engelmörder ausgelöst hatte, war es gewesen. Damals hatte Richard die Leiche des kaum fünfzehnjährigen Jungen, der dem Türmer als Gehilfe gedient hatte, seziert – obwohl er gewusst hatte, dass es sich bei dem Jungen um einen Christen gehandelt hatte. Eine Sünde, die schwer wog und die ihn seitdem immer wieder einmal mit der Sorge um sein Seelenheil quälte.
    Doch diesmal war es nicht diese Sorge, die ihn unruhig machte. Diesmal war es etwas anderes. Etwas, das er eigentlich hätte wissen müssen. Etwas, das der grausige Fund der Leiche im St.-Sebald-Grab wieder zum Vorschein gebracht hatte, das er jedoch nicht richtig zu fassen bekam.
    Er musste sich erinnern!
    Seine Finger begannen erneut zu zittern, und diesmal ergriff das Zittern seinen gesamten Körper. Wie in einem Fieber schüttelte er sich und konnte nichts dagegen tun.
    »Reiß dich zusammen!«, mahnte er sich selbst.
    Der Brunnenwächter blickte ihn fragend an. »Redet Ihr mit mir?«
    Richard schüttelte den Kopf. »Nein.« Dann stolperte er die Stufen wieder hinunter und setzte seinen Heimweg fort.

7. Kapitel
    Das Rathaus lag dem Ostchor der St.-Sebalduskirche gegenüber, und auf seinen mächtigen Dachschrägen befand sich genauso viel Schnee wie auf allen anderen Hausdächern. Rings um die mächtige, aus grauen Steinquadern gefügte Fassade jedoch war die weiße Masse sorgfältig zusammengekehrt und zu großen Haufen aufgeschichtet worden, was Bürgermeister Silberschläger ein zufriedenes Lächeln entlockte.
    Er war ein ordnungsliebender Mensch. Er schätzte es, wenn alles rings um ihn herum nach seinen Plänen verlief und es nicht die kleinste Unebenheit in seinem gewohnten Tagesablauf gab.
    Er hasste Störungen. Störungen, wie zum Beispiel diese elende Leiche in der Kirche, die er soeben verlassen hatte!
    Das Lächeln auf seinen Lippen gefror allein beim Gedanken daran. Er umrundete einen der Schneehaufen und blieb stehen, um sich eine Handvoll davon zu nehmen. Sorgsam formte er sie zu einem Ball, den er sich von einer Hand in die andere warf, während er seinen Weg fortsetzte.
    Er betrat den großen Innenhof des Rathauses durch ein Tor, das zur Hälfte offenstand. Das Straßenpflaster, das draußen buckelig und eisglatt gewesen war, wurde hier drinnen von einem ebenen Belag aus rötlichen Ziegelsteinen abgelöst. In diesen Belag waren in regelmäßigen Abständen metallene Platten eingelassen, die das Stadtwappen zeigten. Ein fürsorglicher Mensch hatte all diese Platten mit Absperrungen aus hölzernen Hürden umgeben, wohl, um die Menschen, die den Hof überquerten, davor zu bewahren, auf dem eisigen Metall auszurutschen.
    Diese gutgemeinte Geste führte dazu, dass Silberschläger im Zickzack über den Hof gehen musste. Er hatte beinahe die gegenüberliegende Tür erreicht, die ins Innere des Gebäudes führte, als ihm KlausEberlein entgegenkam und höflich grüßend vor ihm stehenblieb. Seine

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