Cherubim
Gesicht.
Sie presste beide Hände auf den Busen. »Was ist passiert, Arnulf?«, flüsterte sie.
Er schloss für einen Moment die Augen. Dann hob er den Blick wieder, sah Maria an.
»Komm!«, befahl er.
Und in diesem Moment begannen Marias Knie zu zittern.
Arnulf führte sie zur Hintertür und auf einen von hohen Mauern umgebenen Hinterhof. Ein Holzstoß lehnte an der Hauswand, undeinige kaputte Fässer lagen in einer Ecke aufgeschichtet. Ein Müllhaufen verströmte einen muffigen Geruch. Ein Schuppen stand in der hinteren Ecke, und zu diesem brachte der Nachtrabe Maria jetzt.
Maria wollte ihm nicht folgen, wollte nicht wissen, was sich hinter dieser Holzwand verbarg, doch sie konnte einfach nicht stehenbleiben. Willig wie ein Lamm trottete sie Arnulf hinterher, bis er die Hand nach dem Riegel der Schuppentür ausstreckte.
Da erstarrte sie. Und schüttelte den Kopf.
»Nein!« Das Wort entschlüpfte ihr, ohne dass sie es verhindern konnte. »Nein! Nein! Nein!«
Arnulf wandte sich um. Mitleidig sah er sie an, und diese Gefühlsregung war so ungewöhnlich für ihn, dass Maria vor Entsetzen aufwimmerte.
Ihre Gedanken krallten sich an irgendetwas fest, etwas, das nichts mit diesem Schuppen zu tun hatte. Etwas, das ... schön war.
»Dagmar hat gestern Abend einen reichen Freier gefunden«, sagte sie. Ihre Stimme stolperte über ihre Zunge.
Ein Schatten glitt über Arnulfs Miene. »Sie hat etwas gefunden«, gab er mit rauer Stimme zurück. »Aber es war kein Freier.« Und mit diesen Worten zog er die Tür auf, packte Maria und schob sie beinahe grob in den Schuppen dahinter.
Maria kniff die Augen zusammen. Sie wollte nicht. Wollte nicht. Wollte nicht sehen, was er ihr zu zeigen gedachte.
»Mach die Augen auf!«, befahl er. Völlig ausdruckslos klang er jetzt. Kalt.
Maria fror. Dann hob sie unendlich langsam die Lider. Und stieß einen langgezogenen, gequälten Schrei aus.
Vor ihr, auf einer behelfsmäßigen Pritsche, die jemand aus einem Brett und zwei Fässern gebaut hatte, lag Dagmar. Sie schläft!, kreischte Marias Geist. Sie schläft, schläft, schläft! Doch so vehement die Stimme in ihrem Kopf auch darauf bestand, es war mehr als offensichtlich, dass sie unrecht hatte.
Dagmar lag lang ausgestreckt da. Jemand hatte ihr die Hände über dem Bauch gefaltet. Es war eine friedliche Geste. Doch da war dieser große, furchtbare rote Fleck an ihrem Unterleib. Er hatte den Rockdurchtränkt und den Saum des Mieders, und die Falten der verschiedenen Stoffe wirkten dunkel und starr.
Vor Blut.
Maria wimmerte. Etwas spannte sich um ihren Oberarm, und sie begriff nur am Rande, dass es Arnulf war, der sie mit starker Hand aufrecht hielt.
Sie konnte den Blick nicht von Dagmars Gesicht lassen.
Das Blut am Unterleib der Freundin war schlimm genug, aber es war das Gesicht, das das Wimmern aus Marias Kehle in ein beständiges, gequältes Stöhnen verwandelte.
Dagmars Augen. Sie waren fort.
Dunkel und ebenso schwarz wie der Stoff des Rockes wirkten die leeren Höhlen, und sie gaben dem vertrauten Gesicht etwas Dämonisches.
»Asasel!«, hauchte Maria.
Arnulfs Griff um ihren Arm wurde fester, doch er konnte nicht verhindern, dass der Boden auf Maria zuzurasen begann. Sie fühlte, wie ihre Sinne schwanden, doch bevor sie zusammenbrach, begann eine Stimme in ihrem Kopf zu kreischen.
Wenn aber dein rechtes Auge dir Anstoß gibt, so reiß es aus und wirf es von dir, denn ...
Mehr hörte sie nicht mehr, weil gnädige Finsternis sie umfing.
9. Kapitel
Nachdem Ludmilla noch eine Weile bei Mechthild gesessen hatte, ging sie schließlich, nicht ohne Katharina noch einmal mit einer mütterlichen Geste über die Wange zu streichen.
Katharina kehrte zu ihrem Bett zurück und legte sich erneut darauf, doch dann hielt sie es nicht mehr aus, untätig zu sein. Zusammen mit den Spinnweben in ihrem Kopf war eine große innere Unruhe gekommen, die sie auf die Füße trieb. Sie beschloss, einen Spaziergang zu machen, in der Hoffnung, dass die klirrende Kälte ihre melancholia wenigstens ansatzweise vertreiben würde.
Also sagte sie ihrer Mutter Bescheid, nahm Mantel und Haube und verließ das Henkershaus.
Wohl eine gute Stunde ging sie am Ufer der Pegnitz entlang, überquerte den Fluss im Schatten des Spießhauses auf dem Drudensteg und abermals ganz im Osten nahe der Stadtmauer.
An der flachen Ufertreppe nahe der Spitalgasse, die ihr so vertraut geworden war, seit sie sich um Heinrich kümmerte, hielt sie inne.
Ihr Blick fiel
Weitere Kostenlose Bücher