Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Cherubim

Cherubim

Titel: Cherubim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Lange
Vom Netzwerk:
auf einen Sack, der sich an der Uferböschung verfangen hatte und der mit einer eigenartig fehl am Platz wirkenden roten Kordel verknotet war. Sie beachtete das Ding nicht weiter – es war wahrscheinlich ohnehin nur irgendwelcher Abfall, den ein bequemer Mensch in den Fluten entsorgt hatte –, sondern wandte sich dem schmalen Pfad zu, der sie direkt zu einem von Heinrichs Unterschlupfen führte. Neben der Brandruine an der Frauentormauer hatte er sich hier am liebsten aufgehalten.
    Die alte, trocken gefallene Röhre, in der der Bettler gehaust hatte, ragte verkrümmt aus einer alten Befestigungsmauer wie der Finger eines eingemauerten Riesen. Sie ging vorsichtig, um nicht auf dem eisigen Untergrund auszurutschen, und sie dachte dabei über den Bettler nach.
    Gewöhnlich hatte er einen alten, zerschlissenen Lederbeutel bei sich gehabt, sobald er eines seiner Verstecke verließ. Diesen Beutel hatte Katharina jedoch bei seiner Leiche nirgends entdecken können. Vielleicht fand sie ihn ja hier, und vielleicht half es ihr dabei, zu erkennen, wer sein Mörder war.
    Um ihren Rock vor dem allgegenwärtigen Schmutz zu schützen, schlang sie ihn so eng wie möglich um die Beine, dann kroch sie in die Röhre hinein. Nach drei Schritten weitete sich der Gang zu einer Art Kammer, deren ursprünglichen Zweck Katharina niemals hatte ergründen können. Knapp mannshohe gemauerte Wände begrenzten einen Raum von ungefähr zwei Schritten Länge und Breite. Durch ein verrostetes Gitter in der Decke fiel ein wenig Tageslicht herein und gab den Wänden, die mit einer glitzernden Schicht weißer Kristalle überzogen waren ein fast märchenhaft anmutendes Gepräge.
    Die Röhre, die vermutlich irgendwann einmal als eine Art Abfluss gedient hatte, lief auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes weiter und führte von dort aus tiefer in die Erde unter Nürnbergs Pflaster. Doch dieser Weg war nicht begehbar, denn ein weiteres Gitter aus engstehenden Eisenstäben verwehrte den Zutritt.
    In einer der vier Ecken des Raumes lag ein Haufen Lumpen – Heinrichs Lager.
    Katharina schluckte, als sie einen Blick darauf warf. Es war ein erbärmliches Bett, nur schmutzige Fetzen irgendwelcher alter Decken, die andere fortgeworfen hatten, dazu ein alter Sack aus grauem Leinen, aus dem ein paar brüchige Strohhalme staken. In seiner Verlassenheit wirkte dieses Lager unendlich traurig. Es war ein Zuhause gewesen, ein kaltes, feuchtes Zuhause, aber immerhin ein Zuhause. Dessen Herr jetzt niemals wiederkehren würde.
    Katharina schluckte die trübseligen Gedanken hinunter und näherte sich dem Lager. Der vertraute Geruch Heinrichs schlug ihr entgegen, diese Mischung aus Kot, Urin und Schweiß, die sie am Anfang geekelt, die sie jedoch irgendwann kaum noch wahrgenommen hatte. Jetzt machte dieser Geruch, dass ihr Tränen in die Augen stiegen.
    Sie unterdrückte sie nicht, sondern ließ ihnen freien Lauf, währendsie sich über das Lager beugte und die Decken nach dem Beutel durchsuchte. Wahrscheinlich, dachte sie, waren dies die ersten Tränen, die überhaupt um Heinrich vergossen wurden. Der Gedanke war nicht geeignet, sie aufzuheitern.
    Die Decken sandten einen durchdringenden Schimmelgeruch aus, als Katharina sie anhob. Sie musste husten. Mit dem linken Ärmel bedeckte sie Mund und Nase, während sie mit der rechten Hand weiterforschte.
    Kein Beutel.
    Mit zusammengepressten Lippen richtete sie sich auf, aber bevor sie darüber nachdenken konnte, was sie nun tun sollte, ertönte hinter ihr eine Stimme: »Suchste das hier?«
    Vor Schreck schrie sie auf und fuhr herum.
    Vor ihr stand ... Heinrich!
    Ihr Herz geriet ins Stocken, bevor sie merkte, dass sie sich getäuscht hatte, dass der Mann in dem zerlumpten Mantel mit den zotteligen Haaren und den wie irre aufgerissenen Augen nicht Heinrich war, ihm nur in schrecklicher Weise ähnelte.
    »Hast du mich erschreckt!«, keuchte sie.
    »Wieso? Du bist doch in meinem Heim!«, war die kühle Antwort. Der fremde Mann ließ den Lederbeutel sinken, den er in der erhobenen Hand gehalten hatte, dann drängte er sich an Katharina vorbei und stellte provozierend einen Fuß auf das Lager. Langsam ließ er seinen Blick an Katharinas Gestalt auf und ab wandern. »Siehst nicht gerade so aus, als seiste ’ne Bettlerin«, stellte er fest. Sein rechtes Auge war entzündet und tränte so heftig, dass seine gesamte Wange nass war.
    »Bin ich auch nicht.« Katharina trat einen Schritt näher, weil sie sich das Auge genauer

Weitere Kostenlose Bücher