Chill mal, Frau Freitag
mich auch noch intensiv um die lieben, netten Schüler zu kümmern.
Ist das nicht krass? Der Lohn für gutes Verhalten und regelmäßige Mitarbeit besteht darin, ignoriert zu werden. Warum ignorieren wir nicht mal die Störer? Fräulein Krise schreit bei solchen Vorschlägen: »ETEP, ETEP! Entwicklungstherapie-Entwicklungspädagogik: Da soll man das genauso machen, nur das positive Verhalten verstärken.« Aber was machen die Störer eigentlich, wenn sie ignoriert werden? Hat das schon mal jemand probiert? Und hat unser ganzes pädagogisches Gekümmere schon mal was gebracht? Sind diese Deppen nicht am Ende doch sitzengeblieben, von der Schule geflogen, im Jugendarrest gelandet und ohne Schulabschluss abgegangen?
Wenn die Störer nicht den Unterricht stören, dann schwänzen sie. Zurzeit gebe ich mich mal wieder meinen persönlichen Statistiken hin. Am liebsten ist mir dabei das Ausrechnen der Fehlzeiten meiner Klasse und das Anlegen von Ranglisten. Ich habe ein etwas kompliziertes, aber sehr übersichtliches System entwickelt, die Verspätungen und die Fehlstunden meiner Schüler festzuhalten. Alle vier Wochen schreibe ich den Eltern Briefe und berichte ihnen darin genau, wie oft ihre Kinder geschwänzt haben. Und manche Eltern rufe ich sogar fast täglich an.
Den Schülerinnen und Schülern halte ich ihre Vergehen sofort vor, meistens, wenn ich sie auf dem Hof treffe. Dabei bekomme ich die interessantesten Storys erzählt, die mir aber mittlerweile völlig egal sind. Geschwänzt ist geschwänzt. Außerdem informiere ich die Klasse jede Woche über den Stand der Dinge: Wer hat bisher wie oft gefehlt. Dazu bekommen sie jedes Mal einen Vortrag darüber, dass sie sich doch irgendwann mit ihren Zeugnissen um eine Lehrstelle bewerben werden müssen. Abschließend ein: »Macht nicht so! Strengt euch an, das muss unbedingt sofort aufhören.« In der darauffolgenden Stunde gehe ich auf den Hof, und da sitzen wieder welche, die gerade schwänzen. Wenn ich sie erwische, bringe ich sie persönlich in den Unterricht.
All diese Maßnahmen kosten Zeit, Kraft, und meinen Nerven tun sie gar nicht gut. Ich rege mich über jede einzelne geschwänzte Stunde und sogar über die Verspätungen tierisch auf. Das geht nun schon seit zwei Jahren so. Und was bringt das alles? GAR NICHTS! Ich bin die Einzige in meiner Klasse, die sich erfolgreich irgendwo bewerben könnte. Ich habe keine unentschuldigte Stunde, ich war immer pünktlich.
Nach mir kommen vier Schüler, die auch immer da waren und rechtzeitig kamen. Einige von denen waren aber schon mal einen oder einen halben Tag krank. Dann gibt es sieben Leute, die ein bis zwei Stunden geschwänzt haben und zwei- bis dreimal zu spät kamen. Wenn das so bleibt, kann ich über ihre Fehltritte hinwegsehen.
Aber dann sind da die anderen, die, die gezielt nicht zu bestimmten Unterrichtsstunden gehen. Fünf bis sechs Fehlstunden bis zur vierten Woche des Schuljahres, und ich vermute, dass die Kollegen in der ersten Schulwoche gar nichts aufgeschrieben haben, denn da ist meine Liste ganz leer.
Und schließlich gibt es meine vier Problemfälle: Am Ende der dritten Woche hat einer acht, einer neun, die Dauerschwänzerin des letzten Schuljahres auch jetzt schon wieder zwölf und Hodda sechzehn Fehlstunden. In einer Woche! Und die ist jeden Tag in der Schule. Die geschwänzten Stunden verbringt sie auf dem Hof oder raucht mit irgendwelchen zwielichtigen Jungs vor dem Schulgebäude.
Zweiundachtzig unentschuldigte Fehlstunden insgesamt. In drei Wochen. Für eine Klasse. Ist das normal? Liegt das an mir? Was kann ich dagegen tun? Den Eltern rate ich zu Handyentzug und Ausgangssperren. Aber was kann ich machen? Wie gesagt, ich gehe ja täglich mit gutem Beispiel voran. Oder rege ich mich ganz umsonst auf? Gehört das Schwänzen einfach dazu? Und falls das so ist, wie schaffe ich es dann, mich nicht mehr so enorm darüber aufzuregen?
In der Hauptstadt soll es ein Internat für Schulschwänzer geben. (Ich bevorzuge den schönen Ausdruck »Schuldistanzierte«.) Vielleicht wäre das ja die Lösung. Etwa sechzehn Jugendliche – vor allem solche mit Migrationshintergrund – sollen dort leben und lernen. Das kostet jeden Monat 2 400 Euro pro Schüler. Klingt erst mal ziemlich teuer. Angeblich ist es aber billiger als ein Platz im Knast. Wir verbuchen das also unter dem Motto »Teure Prävention ist besser als ewige Folgekosten«, und ich bin voll dafür.
Wer wird denn dort arbeiten? Steht das schon
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