Chimären
die Gesichter der Fahrgäste, von denen noch einige den Vorgang verfolgten, tippte an die Mütze und ging.
„Sei ja friedlich, du!“, beschwor der Matrose Lux, als er ihm einen Strick um den Hals legte und diesen an der Lehne einer Bank festband.
S chäffi verfolgte die Spur Lux’ ohne jemals zu zögern, bis zur nächsten Dampferanlegestelle nach der Brücke, bis zum Ende des Landungssteges, so dass mit einiger Sicherheit anzunehmen war, dass Lux mit unbekanntem Ziel ein Schiff der Weißen Flotte bestiegen hatte.
Mit dieser äußerst unbefriedigenden Nachricht wartete Shirley Lindsey am Abend des zweiten Tages nach Lux’ Flucht zur Berichterstattung beim Institutsdirektor auf.
Lehmann nahm’s gelassen auf. Er hatte, die Stirn in die Hand gestützt, seiner Mitarbeiterin zugehört und nur kurz aufgesehen, als sie von diesem offenbar ein wenig verwirrten Chlochard berichtete, vor dem sowohl Lux als auch Schäffi ihr Geheimnis gelüftet hatten.
„Das ist ein verdammter Mist“, kommentierte er dann verhältnismäßig ruhig, als Shirley geendet hatte. Und als ob er laut denke, fuhr er fort: „Selbst wenn er damit hausieren geht, wird den Stadtstreicher, diesen Kapitän Nemo – die Namensaneignung sagt schon genug – keiner ernst nehmen. Zwei sprechende Hunde – lächerlich!“ Einen Augenblick grinste Lehmann spöttisch. „Aber da ist auch noch diese Oma aus der Schillerstraße. Und falls noch mehr Leute… Also: So viele Schiffe sind das nicht. Wir werden sie alle aufsuchen und das Personal befragen. Das wäre ja gelacht!“
D ie Zelle lag an einem langen, nicht überdachten Gang. Ein Gitter mit eingelassener Tür schloss sie nach vorn ab. Zwei Körperlängen in der Tiefe und eine in der Breite machten Lux’ Bewegungsfreiheit aus. Aber er nutzte sie nicht, nicht so wie die anderen Hunde in den Nachbarbehausungen. Die meisten sprangen hin und her, richteten sich am Gitter auf, bissen in die Eisenstäbe und begleiteten dieses mit Gekläffe und Gewinsle.
Lux lag still. Wie stets hatte er den Kopf auf die Vorderläufe gelegt und den Körper gestreckt. Eine maßlose Traurigkeit hatte ihn befallen – nicht nur, weil er sich seine zweite Nacht außerhalb des Instituts anders vorgestellt hatte. Die Enttäuschung über die Menschen, die sein Erleben an diesem Tag maßgeblich beeinflusst hatten, löste dieses Gefühl der Niedergeschlagenheit, ja Verzweiflung in ihm aus. Die wenigen Lichtblicke, die es gegeben hatte – das Kind bei der Bank, Käptn Nemo, die beiden Frauen – wogen die Unbill, die ihm widerfahren war und ihn letztendlich in dieses Loch geführt hatte, bei weitem nicht auf. Eine der artige Feindseligkeit hatte er nicht erwartet. Und Lux bedauerte sehr, nunmehr keine Gelegenheit zu haben, ins Institut zurückzukehren.
Immer wieder stand er vor der Entscheidung, ob er die Menschen um ihn herum ansprechen solle in der Gewissheit, dass sich dann seine Situation ändern würde. Aber – eingedenk des Erlebnisses mit der alten Frau, die in Panik ausbrach und sogar das Kind im Stich ließ – in welcher Richtung würde das geschehen? Nach all den unliebsamen Erlebnissen glaubte er nicht, dass sich ein vertrauensvoller Kontakt entwickeln könnte. Er nahm sich daher zum wiederholten Male vor, seine Fähigkeit zu kommunizieren als letztes Mittel aufzusparen, möglicherweise aus dem Dilemma heraus zu kommen.
Der Grund für das schreckliche Lärmen der Leidensgefährten links und rechts und deren Unruhe wurde offenkundig: Von einer Frau in blauer Schürze wurde ein Wagen den Gang entlang geschoben, dem sie vor jeder Zelle zwei miteinander verbundene Schalen entnahm, deren eine Wasser, die andere eine nicht definierbare Nahrung enthielt. Durch eine Klappe in Bodennähe beförderte sie die Gefäße in die Käfige, wo sich die Insassen gierig darauf stürzten.
Lux rührte sich nicht, als die Schalen bei ihm landeten, obgleich er einen grimmigen Hunger verspürte.
„Friss, du blöder Hund!“, befahl die Wärterin mit Gleichmut, hielt sich jedoch nicht weiter auf, sondern zog mit ihrem Wagen schulterzuckend zur Nachbarzelle.
Der Lärm ringsherum nahm ab.
Lux kroch auf die Speise zu, roch daran, schleckte zunächst einige Schluck Wasser und kaute dann Bissen um Bissen der fad schmeckenden industriell produzierten Nahrung. Von Kräften wollte er schon nicht kommen, und was schon brächte ein Boykott. Aber welcher Unterschied zur Verpflegung im Institut…
Der
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