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Chocolat

Chocolat

Titel: Chocolat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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vor dem Süßwarenladen steht und sich fragt: Soll ich? Oder soll ich nicht? Der Teufel ist ein Feigling; er wagt es nicht, sein Gesicht zu zeigen. Er ist substanzlos, zerfällt in Millionen winziger Teilchen, die das Blut und die Seele mit dem Bösen infiltrieren. Wir beide, Sie und ich, mon père , wurden zu spät geboren. Ich sehne mich nach der rauhen, klaren Welt des Alten Testaments. Damals wußten wir noch, wo wir standen. Damals war Satan in Fleischund Blut unter uns. Wir trafen schwierige Entscheidungen; wir opferten unsere Kinder in Gottes Namen. Wir liebten Gott, aber noch mehr fürchteten wir ihn.
    Nicht daß Sie denken, ich würde Vianne Rocher die Schuld geben. Eigentlich denke ich kaum an sie. Sie ist nur einer der schlechten Einflüsse, gegen die ich Tag für Tag kämpfen muß. Aber dieser Laden mit seiner bunten Markise, dieses halbgeschlossene Schaufenster, dieses verführerische Zwinkern, das der Enthaltsamkeit spottet, den Glauben unterhöhlt … Wenn ich aus der Tür trete, um mich der Gemeinde zu widmen, bemerke ich, wie sich im Inneren des Ladens etwas bewegt. Probier mich. Koste mich. Nasch mich . In der Stille zwischen zwei Strophen eines Kirchenliedes höre ich das Hupen des Lieferwagens, der vor dem Laden hält. Während der Predigt – während der heiligen Messe, Vater! – fahre ich mitten im Satz zusammen, weil ich sicher bin, das Rascheln von Bonbonpapier zu hören …
    Obwohl heute morgen nur wenige Leute an der Messe teilnahmen, habe ich eine besonders strenge Predigt gehalten. Morgen werde ich sie büßen lassen. Morgen, am Sonntag, wenn alle Läden geschlossen sind.
    Samstag, 15. Februar
    Heute ist die Schule früher aus. Um zwölf Uhr wimmelt es in der Straße von Cowboys und Indianern in bunten Anoraks und Jeans, mit schweren Schulranzen auf dem Rücken oder in der Hand – die Größeren, mit verbotenen Zigaretten zwischen den Lippen, die Kragen hochgeschlagen, werfen im Vorbeischlendern lässig einen kurzen Blick auf die Auslagen in meinem Fenster. Mir fiel ein Junge in einem tadellos sitzenden grauen Mantel und mit Baskenmütze auf, der allein ging, den Schulranzen korrekt auf denschmalen Rücken geschnallt. Eine ganze Weile blieb er vor dem Schaufenster von La Céleste Praline stehen, doch die Sonne spiegelte sich so ungünstig in der Fensterscheibe, daß ich sein Gesicht nicht erkennen konnte. Als ein paar Kinder in Anouks Alter vor dem Laden stehenblieben, ging er weiter. Zwei Nasen wurden kurz an der Fensterscheibe plattgedrückt, dann steckten die vier die Köpfe zusammen und leerten ihre Hosentaschen, um ihr Taschengeld zu zählen. Nach kurzem Zögern bestimmten sie einen, der hineingehen sollte. Ich tat so, als sei ich hinter der Theke mit etwas beschäftigt.
    »Madame?« Ein kleines, schmuddeliges Gesicht schaute mißtrauisch zu mir auf. Ich erkannte den Wolf aus dem Karnevalsumzug.
    »Du willst bestimmt Makrönchen kaufen, junger Mann.« Ich machte ein ernstes Gesicht, denn der Kauf von Süßigkeiten ist eine ernste Angelegenheit. »Sie sind gesund, leicht zu teilen, schmelzen nicht in der Hosentasche, und du bekommst« – ich hob beide Hände um ihm die Menge anzudeuten – »mindestens soviel für fünf Francs. Stimmt’s?«
    Kein Lächeln, nur ein Nicken wie zwischen zwei Geschäftsleuten. Die Münze war warm und ein bißchen klebrig. Vorsichtig nahm er die Tüte entgegen.
    »Das Lebkuchenhaus gefällt mir«, sagte er feierlich. »Das im Fenster.« Die drei anderen standen in der Tür und nickten scheu, dicht aneinandergedrückt, wie um sich gegenseitig Mut zu machen. »Es ist cool .« Der amerikanische Ausdruck kam fast trotzig über die kleinen Lippen, wie der Rauch einer heimlich gerauchten Zigarette. Ich lächelte.
    »Sehr cool«, stimmte ich zu. »Wenn ihr wollt, könnt ihr mir helfen, es aufzuessen, wenn ich es aus dem Fenster nehme.«
    Große Augen.
    » Cool! «
    » Megacool! «
    »Wann?«
    Ich zuckte die Achseln.
    »Ich werde Anouk bitten, euch Bescheid zu sagen«, versprach ich. »Das ist meine Tochter.«
    »Das wissen wir. Wir haben sie gesehen. Sie geht nicht zur Schule.« Die letzte Bemerkung klang fast neidisch.
    »Ab Montag wird sie in die Schule gehen. Es ist schade, daß sie noch keine Freunde hat, denn ich habe ihr erlaubt, sie mit nach Hause zu bringen. Sie könnten mir nämlich helfen, das Schaufenster zu dekorieren, wißt ihr.«
    Füße scharrten, klebrige Hände wurden ausgestreckt, jeder wollte der erste sein, der den Laden

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