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Chocolat

Chocolat

Titel: Chocolat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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wohlerzogener Junge.«
    Sie wandte sich mir wieder zu und lächelte mich tapfer an.
    »Wenn ich nur wüßte, was er tut«, sagte sie. »Wenn ich nur wüßte, was er für Bücher liest, für welchen Sport er sich interessiert, was er für Freunde hat, wie gut er in der Schule ist. Wenn ich das wüßte …«
    »Dann?«
    »Dann könnte ich wenigstens so tun –« Sie war den Tränen nah. Dann holte sie tief Luft, gewann ihre Fassung wieder. »Wissen Sie was, ich glaube, ich könnte noch so eine Tasse von Ihrer Spezialität vertragen.« Ihre Tapferkeit war gespielt, und ich bewunderte sie mehr, als ich es sagen konnte. Daß sie es trotz ihres Kummers noch schafft, die Rebellin zu spielen und auftrumpfend die Ellbogen auf die Theke zu stützen, während sie ihren Mokka schlürft.
    »Sodom und Gomorrha. Mmmm . Ich glaube, ich bin imParadies. Oder jedenfalls so dicht dran, wie es mir je vergönnt sein wird.«
    »Ich könnte mich für Sie nach Luc erkundigen, wenn Sie wollen.«
    Armande dachte schweigend über meinen Vorschlag nach. Ich spürte, wie sie mich unter ihren halbgeschlossenen Lidern prüfend ansah.
    »Alle Jungs mögen Süßigkeiten, nicht wahr?« sagte sie schließlich wie beiläufig. Ich stimmte ihr zu. »Und ich nehme an, seine Freunde kommen auch hier in Ihren Laden?« Ich erklärte ihr, ich sei nicht sicher, wer seine Freunde wären, aber daß die meisten Kinder regelmäßig kämen.
    »Ich könnte ja auch ab und zu herkommen«, sagte Armande. »Ihr Mokka schmeckt mir sehr gut, auch wenn Ihre Stühle furchtbar sind. Vielleicht werde ich sogar Stammkundin bei Ihnen.«
    »Das würde mich freuen«, sagte ich.
    Erneutes Schweigen. Ich begriff, daß Armande alles auf ihre Weise tat, in ihrem eigenen Tempo, ohne sich von irgend jemandem antreiben oder mit guten Ratschlägen überschütten zu lassen. Ich ließ ihr Zeit zum Nachdenken.
    »Hier. Nehmen Sie das.« Sie hatte ihre Entscheidung getroffen. Energisch knallte sie einen Hundert-Franc-Schein auf die Theke.
    »Aber ich –«
    »Wenn Sie ihn sehen, geben Sie ihm eine Schachtel von irgendeiner Sorte, die er mag. Sagen Sie ihm nicht, daß das Geschenk von mir kommt.«
    Ich nahm den Geldschein.
    »Und lassen Sie sich von seiner Mutter nicht einschüchtern. Sie ist garantiert schon eifrig dabei, allen möglichen Klatsch zu verbreiten. Mein einziges Kind, und sie muß ausgerechnet eine von Reynauds Betschwestern werden.« Sie kniff verächtlich die Augen zusammen, so daß sich lauter kleine Fältchen auf ihren Wangen bildeten.
    »Es kursieren bereits Gerüchte über Sie«, sagte sie. »Siekennen ja diese Sorte. Wenn Sie sich auch noch mit mir einlassen, wird es nur noch schlimmer.«
    Ich lachte.
    »Ich denke, daß ich das verkraften kann.«
    »Das glaube ich auch.« Plötzlich sah sie mich eindringlich an, der ärgerliche Ton war verschwunden. »Es ist irgendwas an Ihnen«, sagte sie leise. »Irgend etwas Vertrautes. Könnte es sein, daß wir uns früher schon mal begegnet sind?«
    Lissabon, Paris, Florenz, Rom. So viele Menschen. So viele Lebenswege, die wir auf unserer rastlosen Wanderschaft gekreuzt hatten. Aber ich konnte es mir nicht vorstellen.
    »Und dann dieser Geruch. Nach Feuer. Es riecht wie kurz nach einem sommerlichen Blitzschlag. Es duftet nach Augustgewittern und Maisfeldern im Regen.« Ihr Gesichtsausdruck war angespannt, ihr Blick forschend. »Es stimmt, nicht wahr? Was ich gesagt habe. Was Sie sind.«
    Schon wieder dieses Wort.
    Sie lachte entzückt und nahm meine Hand. Ihre Haut fühlte sich kühl an, wie Laub. Sie drehte meine Hand um und betrachtete meine Handfläche.
    »Ich wußte es!« Sie fuhr mit dem Finger an meiner Lebenslinie, der Herzlinie entlang. »Ich wußte es in dem Augenblick, als ich Sie zum erstenmal gesehen habe!« Und dann zu sich selbst, mit gesenktem Kopf, so leise, daß es kaum mehr war als ihr Atem auf meiner Haut: »Ich wußte es. Ich wußte es. Aber ich hatte nie erwartet, Ihnen hier in diesem Ort zu begegnen.«
    Ein scharfer, mißtrauischer Blick nach oben.
    »Weiß Reynaud es?«
    »Ich bin mir nicht sicher.« Es stimmte. Ich hatte keine Ahnung, wovon sie redete. Aber ich roch es auch; den Geruch, den der Wind mitbringt, wenn das Wetter umschlägt, einen Enthüllung verheißenden Luftstrom. Ein vager Geruch nach Feuer und Ozon. Das Quietschen eines Getriebes, das lange nicht in Gebrauch war, dieHöllenmaschine der Synchronizität. Oder vielleicht hatte Joséphine recht, und Armande war doch verrückt. Immerhin hatte

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