Choral des Todes
stellten fest, dass sich die gleichförmige Beliebigkeit im Innern fortsetzte. Kein Möbelstück, kein Bild, keine Nippesfigur, die sich nicht in Tausenden anderer Einfamilienhäuser fanden. Kasdan zwang sich dazu, diese auf Kredit gekaufte Inneneinrichtung eingehend zu mustern.
Das gesichtslose Hauptzimmer diente zugleich als Wohn- und Schlafzimmer. Am anderen Ende des Zimmers, am Fuß einer Treppe, standen zwei L-förmig zusammengestellte Sofas gegenüber dem unvermeidlichen Flachbildschirm. Weiter vorne, in der Nähe der Küchentür befand sich ein Esstisch mit Stühlen. Bücherregale, auf denen mehr exotische Objekte als Bücher standen. Truhen, Teppiche, Kommoden, die unübersehbar von Ikea stammten. Farbflecken, die ungefähr genauso inspiriert waren wie das Testbild eines Fernsehers.
Delhambro flüsterte:
»Passt auf die Geschenke auf!«
In der Nähe des großen Glasfensters blinkte die Tannenbaum-Beleuchtung; um dem Baum herum lagen silberne und buntgemusterte Päckchen. Kasdan fühlte sich unwohl. Girlanden, Sterne, glitzernde Kugeln – alles wirkte wie eingelegt in ein Gelee der Langeweile und der Banalität.
»Kaffee?«
Sie nickten und setzten sich an den Tisch, ohne ihre Drillichanzüge auszuziehen. Kasdan sagte sich, dass sie keinen Grund hatten, auf diesen bescheidenen, angepassten Lebensstil herabzublicken. Sie stanken nach der frostigen Nacht, sie stanken nach Scheiße, sie rochen nach der Einsamkeit und der Verwahrlosung von Obdachlosen. Und sie hatten in diesem trauten Heim nichts verloren.
Dalhambro stellte ein Tablett mit drei dampfenden Tassen auf den Tisch.
»Hatte das nicht Zeit?«
Volokine warf einen Zuckerwürfel in seinen Kaffee:
»Ich hab dir doch gesagt, dass es uns auf den Nägeln brennt.«
»Hat das was mit dem Mord in Saint-Augustin zu tun?«
»Bist du auf dem Laufenden?«
»Sie haben es in den Nachrichten gemeldet.«
»Ja, es steht damit in Zusammenhang.«
»Und mit dem Jugendschutzdezernat?«
»Vergiss es.«
Der Russe deutete auf einen Laptop, der in einer Ecke des Tischs stand:
»Kannst du von hier aus eine Suchanfrage durchführen?«
»Das kommt darauf an, worüber?«
»Was meinst du wohl?«
Dalhambro trank seinen Kaffee in einem Zug und stellte dann den Computer vor sich hin. Er setzte eine Brille auf und murmelte:
»Wir haben ein neues Programm, das alle Sekten in Frankreich erfasst.« Mit beeindruckender Schnelligkeit tippte er auf dem Rechner herum. »Vorsicht: Das ist ein geheimes Programm. Mit unserer ersten Liste in den neunziger Jahren haben wir nur Probleme gehabt. In Frankreich ist die Glaubensfreiheit ein in der Verfassung verankertes Grundrecht. Heute muss man von ›sektiererischen Auswüchsen‹ sprechen … Und um etwas gegen die zu unternehmen, brauchen wir Anhaltspunkte für schwerwiegende Delikte: Betrug, psychische Misshandlungen, Freiheitsberaubung …«
Plötzlich war Kasdans Neugierde geweckt:
»Wie viele Sekten gibt es in Frankreich?«
»Man nennt sie ›spirituelle Bewegungen‹. Das schwankt. Es kommt darauf an, ob man die satanistischen Splittergruppen und die Islamisten einbezieht. Aber ich schätze mal mehrere Hundert. Mindestens. Mit 250 000 Mitgliedern.«
Dalhambro blickte über den oberen Rand seiner Brille:
»Schön. Um was für eine Gruppe geht es?«
»Wir wissen nicht viel«, antwortete Volokine. »Sie ist deutsch-chilenischen Ursprungs. Damals, als sie sich in Südamerika niederließ, nannte sie sich Colonia Asunción . Ihr geistlicher Anführer war Hans-Werner Hartmann. Eine Art Nazi, der mittlerweile wohl tot ist, aber Nachahmer gefunden hat. Man vermutet, dass sie mehrere Hundert Mitglieder hat, die sich Ende der achtziger Jahre nach Frankreich abgesetzt haben.«
Der Mitarbeiter des Inlandsgeheimdienstes tippte noch immer, um sämtliche Informationen einzugeben.
»Ihr Credo«, fuhr Volo fort, »basiert auf körperlichen Strafen und Gesang. Zwei Wege, um die spirituelle Reinheit zu erreichen.«
»Wieder mal Psychos!«
»Wir vermuten, dass sie die Kinder regelrecht darauf abrichten, zu morden. Diese mordenden Kinder könnten in drei Mordfälle aus jüngster Zeit verwickelt sein, unter anderem in die Ermordung des Priesters der Pfarrei Saint-Augustin.« Volokine warf Kasdan einen Blick zu. »Unserer Meinung nach ist das nur die Spitze des Eisbergs. Wir nehmen an, dass es auch zu Kindesentführungen und zu Experimenten an Menschen kommt.«
Dalhambro pfiff ironisch:
»Ihr seid da an einem großen Ding
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