Choral des Todes
ich ihn mit offenen Armen, ganz egal, wo ich mich befinde. Das Problem besteht darin, dass ich nicht einmal ein Drittel dessen bekommen habe, was ich wollte. Kann ich duschen?«
Kasdan betrachtete den jungen Mann. Trotz Drillichjacke, weißem Hemd und Krawatte sah er aus wie ein Obdachloser. Ein streunender Hund.
»Nur zu. Es dauert noch, bis der Kaffee durchgelaufen ist.«
»Danke.« Volo zog eine dicke Aktenmappe aus seiner Umhängetasche. »Hier. Die Ausbeute der vergangenen Nacht. Ich habe die Dokumente mit meiner Digitalkamera aufgenommen und heute Morgen alles in einem Copy-Shop ausgedruckt.«
»Was hast du gefunden?«, fragte Kasdan, während er die Croissants in eine Porzellanschale legte.
»Einen weiteren Vermissten. Wieder ein Sängerknabe. Im Jahr 2005. Gehörte dem Chor von Saint-Thomas-d’Aquin an, der ebenfalls vom seligen Wilhelm Götz geleitet wurde.«
»Red keinen Stuss!«
»Wir haben Mist gebaut. Wir hätten das alles zuerst überprüfen müssen. Götz leitete vier Chöre. In zwei davon sind innerhalb von zwei Jahren zwei Jungen verschwunden. Theoretisch könnte es sich natürlich um Zufälle handeln. Aber ich sage Ihnen, dass Götz da bis zum Hals drinsteckt.«
Kasdan nahm den Stoß Papiere und blätterte ihn durch.
»Götz ist in diese Fälle verwickelt«, beteuerte Volokine. »Er ist pädophil, Herrgott noch mal. Und ein Junge hat beschlossen, sich zu rächen, an ihm und seinem Geliebten.«
»Du weißt nicht alles.«
Der Armenier legte Volo dar, was er in der Nacht erfahren hatte. Die Schuhabdrücke bewiesen, dass es nicht einen Mörder, sondern mehrere gab. Mehrere Jungen.
Den Russen schien das nicht zu überraschen:
»Das bestätigt meine Theorie«, sagte er. »Die Kinder haben sich gegen denjenigen erhoben, der ihnen Gewalt angetan hat.«
»Es ist zu früh, um …«
»Lesen Sie. Ich habe mir auch die Akte von Tanguy Viesel geholt. Jetzt gehe ich duschen.«
Volo verschwand. Kasdan überflog die Akte. Als er hörte, wie das Wasser aufgedreht wurde, fragte er sich, ob der Russe sich eine Spritze setzte. Eine Dusche bot Junkies einen beliebten Vorwand, im Bad zu verschwinden und sich dort, abgeschirmt durch das Geräusch von fließendem Wasser, ihrem Ritual zu widmen.
Sogleich durchzuckte Kasdan ein weiterer Gedanke, der in keinem Zusammenhang mit dem vorangehenden stand. Er würde nichts von dem seltsamen Besuch von gestern Nacht erzählen. Wer ist da, verdammt? Hatte er geträumt? Hatte sich am Ende des Flurs tatsächlich ein Junge versteckt, der mit einem hölzernen Stock auf den Boden geklopft hatte?
Die Angaben über das Verschwinden von Tanguy Viesel brachten nichts Neues. Da die Ermittlungen der Kollegen vom 14. Arrondissement ergebnislos verlaufen waren, hatten sie die Akte an die Dienststelle für Vermisste weitergeleitet. Da der Junge Kleidung mitgenommen hatte, nahm man an, dass er ausgerissen war. Trotz seiner elf Jahre war es ihm vielleicht gelungen, fern seiner Familie zu überleben.
Der Fall fügte sich nahtlos in den stetigen Strom von Vermisstenanzeigen in Frankreich ein. Jedes Jahr bearbeitete das Dezernat zur Bekämpfung von Personendelikten, eine Dienststelle, die ausschließlich für die Region Île-de-France zuständig war, ungefähr dreitausend Vermisstenanzeigen, ganz abgesehen von den zweihundertfünfzig nicht identifizierten Leichen und den fünfhundert Menschen mit Amnesie, deren Gedächtnis man wieder auffrischen musste.
Die Umstände, unter denen der zweite Junge, der zwölfjährige Hugo Monestier aus dem 5. Arrondissement, verschwunden war, glichen denen im Fall Tanguy. Er hatte sich auf dem Weg zur Schule gewissermaßen in Luft aufgelöst. Da er persönliche Sachen mitgenommen hatte, lag die Vermutung nahe, dass er ebenfalls von daheim weggelaufen war. Die mehrwöchigen Ermittlungen verliefen im Sand. Die Polizisten hatten die beiden Fälle verglichen und die Parallelen registriert: zwei Sängerknaben, zwei Soprane, zwei Chöre, die von Wilhelm Götz geleitet wurden. Der Chilene war vernommen worden, doch bei der Befragung hatten sich keinerlei Verdachtsmomente gegen ihn ergeben.
Der Armenier ließ die Blätter fallen und trank einen Schluck Kaffee. Unwillkürlich dachte er an Pater Paolini, der der Pfarrgemeinde von Saint-Thomas-d’Aquin vorstand. Der Priester musste heute Morgen von seiner Reise zurückgekehrt sein. Kasdan griff nach seinem Handy und wählte die Nummer der Pfarrei – das Wasser in der Dusche rauschte noch immer.
Beim
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