Christiane F. – Mein zweites Leben (German Edition)
Jahre die größte und offenste Drogenszene Europas. Gegen Ende der Achtzigerjahre wurde dieser Park, der Platzspitz, zum Treffpunkt der Drogensüchtigen, die zuvor von anderen Plätzen vertrieben worden waren. Von Polizei und Politik lange toleriert, kamen Süchtige aus der ganzen Schweiz und aus dem Ausland hier zusammen. Die meisten lebten in Armut und finanzierten ihre Sucht durch Diebstähle oder Prostitution. Am Flussufer bauten sie aus Kartons und Sperrmüll mehrmals kleine Dörfer, ein Zuhause hatte das Gros der Süchtigen damals nicht. Die provisorischen Behausungen wurden von der Polizei immer wieder abgerissen, doch die Behörden befürchteten bald, dass auf dem Platzspitz ein rechtsfreier Raum entstehen könnte.
Die Szene war brutal geworden, vor allem seit Kokain das Heroin vom Markt verdrängt hatte.
Passanten rund um den Platzspitz wurden überfallen und ausgeraubt, tote Drögeler trieben in den Flüssen. Sie waren von anderen Junkies zum Beispiel im Streit um eine Decke oder um ein Stück Schokolade gefesselt, geknebelt und ertränkt worden.
Gleich hinter dem Ausgang zum Sihlquai begann die Haschgasse, wo Cannabis verkauft wurde. Es gab Leute, die die Stoffe mischten, andere, die Lieferanten vermittelten, Rufer, die Konsumenten lockten. Dealerbanden aus Bürgerkriegsländern organisierten und kontrollierten den Handel mit Gewalt, ganz am unteren Ende der Handelskette standen die „Filterlifixer“ – Menschen, so weit am Boden, dass sie Spritzen, Nadeln und sonstige Utensilien zum Gebrauch der Drogen verteilten, um als Lohn die zum Aufziehen der aufgelösten Drogen in die Spritze benutzten Zigarettenfilter behalten zu können.
Daraus lösten sie Drogenreste zum Eigengebrauch – HIV- oder Hepatitis-C-Infektionen waren meist inklusive.
An den Abenden wurde die Szene zu einem gespenstischen Gewimmel am Rondell, einem beleuchteten Pavillon inmitten des Parks. Einige Abhängige wankten umher, andere lagen halluzinierend auf dem Rasen oder übergaben sich im Gebüsch. Die Marktrufe verstummten bis in die frühen Morgenstunden nicht. Dann räumte die Polizei das Rondell wieder, damit Gartenarbeiter den Schmutz der Nacht in die Sihl spülen konnten.
Als diese traurigen Szenen Ende der Achtzigerjahre durch die Weltpresse gingen und der Platzspitz inmitten des vornehmen Zürich als „Needle Park“ in furchtbaren Ruf geriet, wurde das Zürcher Aids-Interventions-Projekt (Zipp) ins Leben gerufen. In den ehemaligen Toilettenhäuschen der Anlage gaben Ärzte, Sanitäter und Sozialarbeiter zusammen mit freiwilligen Helfern saubere Spritzen, Tupfer und Wundcreme aus. Drei- bis viermal am Tag mussten sie bewusstlose Drögeler wiederbeatmen, Spritzenabszesse behandeln und Aidstests durchführen.
Bis zu 15.000 Spritzen verteilten sie am Tag im Tausch gegen gebrauchte Kanülen, erteilten Ratschläge zur Methadon-Behandlung, vermittelten soziale Hilfe und Entzugsprogramme. Andere Hilfsorganisationen versorgten die Drögeler mit warmen Mahlzeiten und Getränken. So versuchten die Helfer, Sucht und Seuche am Platzspitz in den Griff zu bekommen.
Wegen Überdosis, eitriger Infektionen, Aids und Hepatitis war Drogenkonsum die häufigste Todesursache von Menschen mittleren Alters geworden, europaweit hatte Zürich die meisten HIV-Fälle. In der Politik forderten die einen zur Lösung des Problems eine kontrollierte Freigabe von Heroin, die anderen den gesetzlichen Zwangsentzug und eine Internierung der Drögeler. Drogenfachleute und Straßenarbeiter waren gegen Zwang und Räumung des Platzspitz. Ihrer Ansicht nach konnte man nur auf einem zentralen Platz die Drögeler kontrollieren und ihnen helfen.
Das Statthalteramt sah das anders und ließ am 5. Februar 1992 den Park überstürzt räumen. Mit Schlagstöcken, Wasserwerfern und Gummischrot reinigte die Polizei den Platzspitz von Dreck, Gestank und Leibern – schob die verelendete Szene vor sich her durch die ganze Innenstadt.
Die Vertreibung der Drogensüchtigen vom Platzspitz führte jedoch nur dazu, dass sie sich auf dem stillgelegten Bahnhof Letten wieder ansiedelte. Dort breitete sich das Elend dermaßen aus, dass selbst die nicht Drogen konsumierende Bevölkerung in Not geriet – irgendwann mussten die Nachbarn von Letten auf dem Weg zu ihren Häusern über Nadeln und Kot, durch Dreck und Urin laufen; Frauen wurden von Freiern des nahe liegenden Straßenstrichs belästigt und Kinder als Drogenkuriere angegangen.
Im Sommer 1994 war das Lettenareal
Weitere Kostenlose Bücher