Christiane F. – Mein zweites Leben (German Edition)
derart verkommen, dass die Stadt es aus hygienischen Gründen von Ratten, Wespen und Müll reinigen lassen musste. Der Polizei schien die Situation zu entgleiten: An mehr als 200 Tagen in diesem Jahr herrschten in den Polizeigefängnissen Aufnahmestopps aufgrund von Platzmangel. Trotzdem waren die Zellen notorisch überbelegt, zum Teil mit doppelt so vielen Insassen wie vorgesehen. Dealer und Drögeler tanzten Politik und Polizei auf der Nase herum. Dann eskalierte die Gewalt: In der größten offenen Drogenszene Europas tobte ein Bandenkrieg zwischen Libanesen, Kosovo-Albanern und Nordafrikanern um Marktanteile. Die Stadt Zürich richtete Hilfsappelle nach Bern, Anwohner und anliegende Gewerbetreibende verrammelten Türen und Fenster, ein Einsatz der Armee wurde ernsthaft debattiert.
Dann endlich erklärte die Schweizer Regierung die Situation am Lettenareal zu einem nationalen Problem und veranlasste weitgehende präventive Maßnahmen im ganzen Land, ließ „kantonsfremde“ Konsumenten konsequent in ihre Heimatkantone zurückführen und stellte Fixerräume bereit.
Die damals beschlossene Vier-Säulen-Politik aus Repression, Prävention, Therapie und Überlebenshilfe trug maßgeblich dazu bei, dass die Schließung des Lettenareals im Februar 1995 zu einer Wende der Drogensituation und einer Besserung der Lebensqualität in Zürich führte.
Der Platzspitz wurde erst im Juni 1993 wieder für die Bevölkerung geöffnet. Polizeiliche Kontrollen und die Sperrung des Geländes nach 21 Uhr sollten das Wiederaufleben der Drogenszene verhindern. Die Drogensituation in Zürich hat sich seitdem stark verändert. Eine offene Drogenszene gibt es heute nicht mehr, die Beschaffungskriminalität ist zurückgegangen, Drogenabhängige sind weniger verelendet.
Zehn Jahre nach der Lettenschließung zog die Stadt Zürich die Bilanz, dass sich das restriktive Vorgehen bewährt habe, die Drogenpolitik dennoch weiter angepasst werden müsse. Man habe sich derart stark auf die Überwindung der offenen Szene konzentriert, dass andere Entwicklungen fast verschlafen worden seien, hieß es. Die Stadt sei zum Beispiel nur zögerlich in die Partydrogenprävention eingestiegen. Und die Entwicklung beim Cannabiskonsum habe man praktisch ausschließlich der Justiz überlassen.
Der Konsum von Heroin ist seit 1995 stark zurückgegangen. In den vier städtischen Gassenzimmern halten sich derzeit täglich je 50 bis 100 Süchtige auf. Die 1.500 Plätze in Methadon- und Heroinprogrammen sind weiterhin gut ausgelastet, die Zahl abgegebener Spritzen ist von 15.000 pro Tag während der Lettenphase auf 1.500 gesunken.
Dass weniger Heroin konsumiert wird, bedeutet aber nicht, dass insgesamt weniger Drogen in Umlauf sind. Mittlerweile hat Kokain unter den harten Stoffen die größte Verbreitung, die Beliebtheit dieser Droge wird nur noch von Alkohol und Cannabis übertroffen.
Die Stadt Zürich strebt nicht das Ideal einer drogenfreien Gesellschaft an, sondern eine stadtverträgliche Drogenszene.
Im Vergleich zur Zeit der Platzspitzräumung gibt es heute nicht weniger Drogenkonsumenten. Das Konsumverhalten, die Verfügbarkeit sowie die Art der Drogen und die Süchtigen selbst haben sich aber stark verändert. Die Polizei geht von aktuell rund 5.000 Schwerstabhängigen in der Stadt aus, viele Heroinkonsumenten sind inzwischen gut integriert und fallen kaum mehr auf. Die Verwahrlosung, ein typisches Merkmal der offenen Drogenszene, ist praktisch verschwunden.
Substitutionsprogramme, Fixerstuben und auf in die Jahre gekommene Junkies zugeschnittene Angebote von Sozialhilfe und Alterspflege haben den Gesundheitszustand und die soziale Integration der Betroffenen deutlich verbessert.
S. V.
Plötzensee
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I ch war nicht grausam genug. Am ersten Tisch war einfach nicht mein Platz. Ich mag andere Leute nicht rumkommandieren und korrigieren und beschimpfen und zusammenschlagen. So wie die Tollkühn. Ihr Nachname sagte schon alles. Das war eine Teufelin, wie sie im Buche steht. Anna Tollkühn. Groß, dunkelhaarig, massiv.
So ein Mannweib mit harten Gesichtszügen, riesigen Füßen und krausem Haar, das sie jedes Mal an einer anderen Stelle rasierte, wenn sie wieder in den Knast kam. Sie hat auch immer eine neue Sprache gelernt, zuerst Englisch und Spanisch. Weil sie so aggressiv ist, musste sie früher in die Zelle als die Mitinsassinnen. Diese Zeit nutzte sie, um Sprachen zu lernen. Dieses Mal lernte sie Russisch.
Die Tollkühn
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