Christiane F. – Mein zweites Leben (German Edition)
ich da die Ruhe fände, die ich nun suchte.
Wir fuhren in der Gegend umher und fanden dieses komplett neue, noch leer stehende Haus. In einem Fenster stand eine Telefonnummer, da rief ich an. Vier Wochen später zog ich in die Zwei-Zimmer-Neubauwohnung über dem „Haus der schönen Dinge“, einer kleinen Boutique gegenüber dem Atelier von Markus Lüpertz.
Eines Tages klingelte eine Sozialarbeiterin an der Tür. Sie kannte mich aus der Substi-WG und sagte, sie wolle nun nachsehen, wie es mir und meinem Kind gehe. „Alles prima, danke.“
Ob ich mir eine Familienhilfe wünschen würde?
„Wenn es ein Mann ist, warum nicht? Ich habe sowieso die Sorge, dass Phillip das männliche Vorbild fehlt, wenn er nun älter wird. Jetzt ist er sechs und möchte schon klettern und raufen, bald will er sicher Schlittschuhlaufen und zu Fußballspielen ins Olympiastadion. Ich fände es super, wenn es einen Mann gäbe, der all diese Jungs-Sachen mit ihm macht und ihm ein Vorbild ist.“
So kam Thorsten 2005 in unser Leben, ein mittelgroßer, mittelblonder, mittelmäßig lustiger Kerl. Nur zwei, drei Wochen und ein paar schriftliche Anträge beim Jugendamt Potsdam-Mittelmark später kam er das erste Mal bei uns vorbei – und war ganz und gar nicht, was ich mir vorgestellt hatte.
Er setzte sich an meinen kleinen Küchentisch und fragte, wie es denn so geht. Alle zwei, drei Wochen folgte ein weiterer Besuch, bei dem er mich und Phillip eigentlich nur ausfragte. Er ist ein netter Mann, aber nichts war da mit Lego-Bauen, nichts mit Schlittenfahren oder Fußballgucken. Ich glaube, er war nur einmal mit dem Jungen bei einem Fußballspiel – bis er ihn mir dann wegnahm.
Aber ich ließ mir mein Kind nicht kampflos vom Jugendamt wegnehmen. Wir waren fast genau 24 Stunden auf der Flucht, als Mustafa uns bei der Pension ablud, die Beckermann und ich bei unserem Probebesuch zehn Tage zuvor gefunden hatten.
Oder besser gesagt: Die Eigentümerin der Pension hatte uns gefunden. Eine ältere Dame, schroff, aber irgendwie sympathisch, hatte uns am Bahnhof angesprochen. Ich kannte solche Leute aus Griechenland. Die Hellenen stehen oft mit Schildern am Hafen und rufen „Hotel! Hotel!“. Das sind meist Menschen, die gar kein Hotel führen, sondern schlicht ein paar Zimmer leer stehen haben und sich was dazuverdienen wollen. So war das damals also auch in Amsterdam.
Doch schon als sie uns dieses Mal anraunzte, dass wir nicht so laut sein sollten beim Entladen der Koffer, merkte ich, dass sie ganz anders drauf war, als bei unserem Besuch vor knapp zwei Wochen. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass wir mit so viel Gepäck kämen: Wir hatten sogar Phillips Fernseher und seine PlayStation, meine Töpfe und Bettwäsche dabei, den ganzen Hausstand eben. Als sie das Geld sah, das ich ihr für sechs Nächte im Voraus gab, entspannte sich ihr Gesicht. Wir mieteten zwei Zimmer an, eins mit zwei Einzelbetten und eins für das Kind.
Bezahlen konnte ich nur bar, denn meine EC-Karte war gesperrt worden, seit Beckermann mir kurz vor unserer ersten Amsterdamreise 300 Euro Spesen überwiesen hatte. Die Bank informierte mich daraufhin, dass jemand Geld auf mein Konto transferiert habe, der keine Geldgeschäfte tätigen dürfe, und damit ich nicht betrogen werde, könne ich erst einmal nur am Schalter persönlich Geld abheben, bis ich die neue Karte per Post erhalte. Aber nun war keine Zeit mehr, um auf diese Karte zu warten. In weiser Voraussicht hatte ich 5.000 Euro abgehoben und mitgenommen.
Als ich mir im Bad des Pensionszimmers die Zähne putzte und das Gesicht wusch, kam ich runter von dem schlimmsten Höllentrip, den ich jemals ohne Drogeneinfluss gehabt habe. Wir hatten es bis hierher geschafft, über die Grenze, so schnell würde man uns jetzt nicht mehr kriegen. Als ich das kalte Wasser auf meiner Haut spürte, fühlte ich, wie mein Puls langsam zur Ruhe kam. Das kann sich niemand vorstellen, der kein Kind hat. Einer Mutter das Kind wegzunehmen – da drehst du durch. Da schaltet alles ab. Das Kind! Das Kind! Das Kind! Egal wohin, aber nicht ohne mein Kind!
Beckermann entspannte sich null. Er beharrte die ganze Zeit darauf, dass wir doch noch nach Spanien abhauen. „Da finden sie uns noch schlechter“, meinte er. Aber das war mir zu ungewiss, zu unbekannt. Ich bin schon ein bisschen ein Kontrollfreak und wollte nicht mit meinem Kind in die Fremde fahren, wo ich selbst noch nie war und wo ich die Sprache nicht beherrsche. Also blieben wir
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