Christiane F. – Mein zweites Leben (German Edition)
wir saßen.
Es war kurz nach Mitternacht, als sie uns aus dem Zug holten. Als Erstes untersuchten sie die fünf Koffer, die ich bei mir und die ganze Zeit allein durch die Stadt geschleppt hatte; immer zwei Koffer nehmen, noch einmal zwei, dann meinen Sohn und den letzten Koffer. Ich wehrte mich nicht, aber es wurde trotzdem eine ganz schlimme Szene. Phillip weinte wie verrückt, er krampfte und schüttelte sich und bat die Polizisten: „Bitte nur noch fünf Minuten, bitte!“
Zwei der vier Polizisten liefen dann auch die Tränen. Fürchterlich, der Junge hatte solche Angst. Ein Beamter nahm ihn an die Hand, ich bückte mich zu ihm hinunter und sah ihm in die Augen. Dann gab ich ihm den Kakao, den ich zuvor gekauft hatte, und sagte: „Sei schön brav. Bald sind wir wieder zu Hause, diese Leute kümmern sich jetzt nur um dich, weil Mama ein paar Probleme lösen muss. Aber bald sind wir wieder zu Hause.“ Dann gingen sie.
Bis heute verkrafte ich es nicht, dass sie mir den Jungen weggenommen haben. Ich bin zu feige, mich umzubringen, aber ein Leben führe ich seitdem auch nicht mehr. Dir das Kind wegzunehmen, das ist, wie dir das Herz rauszureißen und die Seele zu stehlen und dich trotzdem am Leben zu lassen. Du bist nur noch eine Hülle, und die einzigen Gefühle, die du zu empfinden in der Lage bist, sind Leere und Traurigkeit. Jedes Mittel ist dir recht, das Gefühl zu betäuben. Jedes.
Es war dumm von mir, wieder mit dem Heroin anzufangen. So habe ich jede Chance vertan, das Sorgerecht und das Aufenthaltsbestimmungsrecht wiederzubekommen. Mir war das alles nicht klar, mich hat niemand richtig aufgeklärt, und es war mir auch alles egal.
Ich habe keine Ahnung, welche Mutter es schafft, in so einer Situation Ruhe zu bewahren und taktisch klug zu agieren. Ich war nur noch am Ende und glaubte, endgültig alles verloren zu haben. Man hatte sich ein Bild von mir als Mutter gemacht, und ich hatte sowieso keine Chance, das zu ändern.
Heute denke ich, dass die Presse wirklich auch eine Mitschuld daran trägt. Denn die hatte mich in den finstersten Abgrund geschrieben, den man sich vorstellen kann – und gab allein meiner Schwäche für Drogen die Schuld. Wem oder was auch sonst? Es war doch klar, nicht wahr?
Ich war nicht rückfällig, ich war Mutter. Das hat aber niemanden interessiert! Nicht einmal meine eigene Mutter. Sie breitete mein Leid in einer sechsteiligen BZ-Interviewreihe aus, und so erfuhr ich, nachdem ich gerade mein Kind verloren hatte, dass meine Mutter auch nicht mehr meine Mutter sein wollte. Die hat doch tatsächlich zu einer Reporterin gesagt: „Alles, was ich anpacke und selber regeln kann, das macht mir keine Angst. Ich habe mein Leben immer aktiv in die Hand genommen und versucht, das Beste daraus zu machen. Letztendlich ist es mir gelungen. Bis auf Christiane. Dass mir das in die Quere gekommen ist. Das ist nicht perfekt, aber es ist passiert. Damit muss ich leben.“
Ich dachte, ich lese nicht richtig! Immer geht es nur um sie! Einen Dreck hat es sie geschert, dass ihre Tochter gerade komplett am Boden ist, sie tritt auch noch nach, gibt mir und aller Welt das Gefühl, dass ich eine unendliche, unberechenbare Bürde für sie bin und ihr ach so perfektes Leben zerstöre. Unglaublich!
Sie hat auch über meinen Vater noch einmal kräftig hergezogen – 30 Jahre nach dem Buch erzählt sie noch mal in epischer Breite, wie er uns Kinder verprügelte und dass er sie einmal aus dem 19. Stock hatte werfen wollen. „Irgendwann ist der Punkt erreicht, da kann man nicht mehr“, ließ mir meine Mutter über die BZ ausrichten. „Ich würde ihr gern helfen, aber ich fühle mich nach all den Jahren völlig hilflos.“ So stand es da. Das war das Letzte, was ich von meiner Mutter hörte.
Beckermann wollte dann auch noch Kasse machen und hat Informationen gegen Honorar an die Presse verkauft. Allen möglichen Medien hat er Interviews gegeben und Lügen über mich verbreitet. Soweit ich weiß, haben die meisten Journalisten ihm nichts bezahlt, gedruckt haben sie seine Unwahrheiten aber trotzdem. Dass wir angeblich ein Paar waren und dass ich in Amsterdam „entglitten sei“ und meinen Jungen „tagelang unbeaufsichtigt gelassen“ habe.
Es war von Anfang an ein abgekartetes Spiel: Die Überweisung, die er auf mein Konto getätigt und die zur Sperrung meiner EC-Karte geführt hatte, diente dem Zweck, an meine Bankdaten ranzukommen. Er hatte sich in den vergangenen zwei Monaten reichlich an
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