Christianisierung und Reichsbildungen - Europa 700 - 1200
zwischen Anwärtern königlichen Geblüts zu entscheiden hatten, wird aus den nordischen Reichen berichtet, wohingegen bei den normannischen Eroberern in England und Sizilien ein striktes Erbrecht die Beteiligung der Großen nur ausnahmsweise zuließ. Vorherrschend war die Weitergabe der Krone innerhalb der Königsfamilie, gegebenenfalls also auch an minderjährige oder weibliche Erben, ebenso in den iberischen Reichen und in Ostmitteleuropa, wobei der Grundsatz der Primogenitur unter dem Eindruck schwerer Thronkämpfe meist erst im 13. Jh. durchdrang. Insgesamt ist deutlich, daß die herrschenden Dynastien durch die Entwicklung begünstigt wurden. Sie gaben ihren Reichen teilweise über Jahrhunderte ein Profil, und das selbst dann noch, wenn im 12. Jh. das Gesamtkönigtum scheiterte und sich in Teilfürstentümer auflöste, denn auch diese blieben ausschließlich in Händen der polnischen Piasten und der russischen Rjurikiden.
Die christliche Fundierung der Monarchie zeigte sich nicht bloß beim Herrscherwechsel, sondern auch im Regierungsalltag. Da die Kirche der Hort der Schriftkultur war, wurde nach der Christianisierung erst mit Hilfe ihrer Geistlichkeit ein auf geschriebenen Verfügungen basierender Herrschaftsstil möglich. Die von den frühen Karolingern entwickelte Organisation der in ihrem Umfeld tätigen Kleriker als Hofkapelle mit Zuständigkeit für den Gottesdienst, laufende Beratung und eben auch den Schriftverkehr wurde von den getauften Königen des «jüngeren» Europa durchweg übernommen. Anders als in Byzanz, wo am Kaiserhof gebildete Laien dominierten, lag daher im lateinischen Westen das Brief- und Urkundenwesen der Könige überall in geistlicher Hand, wovon im 12. Jh. allein Roger II. von Sizilien abzurücken begann. Darüber hinaus schuf die Kirche, begütert durch Schenkungen von Königtum und Adel, ein großflächiges Netz von Bistümern und Pfarreien, in denen die christliche Lehre vermittelt und für das Heil des Königs gebetet wurde. Domkirchen und Klöster unterhielten Schulen, die den Zugang zur lateinischen Geisteswelt ebneten. DieBischöfe, durchweg den höchsten Kreisen entstammend, traten fallweise den Herrschern als Mahner entgegen, wobei sie sich auf die Natur des Königtums als eines von Gott (und mittelbar der Kirche) verliehenen Amtes beriefen, standen aber zumeist ihren Monarchen als loyale Helfer zur Seite. Diese waren auch nach dem allenthalben im 12. Jh. üblich gewordenen Verzicht auf die förmliche Investitur weiter erfolgreich in dem Bemühen, ihren bestimmenden Einfluß auf die Auswahl der geistlichen Würdenträger zu wahren. Von großer Bedeutung war für die neu entstehenden christlichen Reiche die päpstliche Bewilligung eines eigenen Erzbischofs, was sie von den älteren Kirchen der Nachbarländer unabhängig machte. Die Synoden, zu denen ein solcher Erzbischof den übrigen Episkopat versammelte, wurden zu repräsentativen Foren des ganzen Reiches.
Christen, Muslime, Juden
Unter den drei monotheistischen Religionen fand das Christentum in römisch-katholischer wie in griechisch-orthodoxer Gestalt bis 1200 in Europa die weiteste Verbreitung, die nur noch Teile des Ostseeraumes (Finnland, Estland, Livland, Litauen) aussparte. Dieser Erfolg war nicht allein dadurch bedingt, daß die christlichen Reiche des Frühmittelalters in breiter Front vom Nordwesten bis zum Südosten des Kontinents unmittelbar an die heidnische Welt der polytheistischen Stammeskulte angrenzten, also einen viel leichteren Zugang dorthin hatten als etwa die rund um das Mittelmeer ansässigen Muslime. Mehr noch ins Gewicht fiel das grundsätzliche Selbstverständnis des Christentums als eines Heilsangebots an die Menschen aller Völker im Unterschied zu dem auf politisch-militärische Expansion ausgerichteten Islam und dem auf ein «auserwähltes Volk» beschränkten Judentum. Gewiß ist auch die missionarische Ausbreitung des Glaubens an Jesus Christus im Früh- und Hochmittelalter streckenweise in Verbindung mit gewaltsamer Eroberung erfolgt (Sachsen, Elbslawen, später Deutschordensstaat), doch hat sie insgesamt zu einem (relativ) friedlichen Nebeneinander christianisierter Völker und nicht zu einem theokratischenGroßreich geführt. Da sich allein die östlichen Kaiser (mit schwindender Resonanz), aber nicht die Nachfolger Karls des Großen und Ludwigs des Frommen im Westen als Herrscher aller Gläubigen begriffen, konnte sich im Okzident ein prinzipiell vom Kaisertum losgelöster
Weitere Kostenlose Bücher