Christianisierung und Reichsbildungen - Europa 700 - 1200
deren im Neuen Testament überlieferte Rolle beim Tod Christi bewirkten mindestens latente Spannungen, die sich trotz ausdrücklicher Verbote von weltlicher und kirchlicher Seite schon im Frühmittelalter in Gewaltakten von Christen entladen hatten. Im gewandelten religiösen Klima seit der Mitte des 11. Jhs. steigerte sich dies zu rabiaten Verfolgungen, als Scharfmacher unter den Christen wie den Muslimen die Nachbarschaft von Juden nicht länger hinzunehmen bereit waren und auch vor deren Ermordung nicht zurückschreckten, wenn sie sich der «Bekehrung» verweigerten. Nach einem ersten schweren Pogrom im islamischen Granada mit Tausenden von Todesopfern (1066) waren es 1096 aufgehetzte Christen, die zu Beginn des Ersten Kreuzzugs in den rheinischen Städten auf ähnliche Weise wüteten. Am Vorabend des Zweiten Kreuzzugs (1146) wiederholten sich derartige Exzesse vornehmlich in Frankreich, vor dem Dritten Kreuzzug (1189/90) in England. Für zusätzlichen Zündstoff und lokale Gewaltausbrüche sorgten die seit dem 12. Jh. in Umlauf gebrachten Behauptungen über jüdische Ritualmorde. Die überlebenden Juden reagierten teilweise mit der Abwanderung nach Osten, teilweise mit der Ansiedlung in kleineren Orten, so daß sich etwa in Deutschland die Zahl ihrer Gemeinden vermehrte, deren Größe aber verringerte. Die Zahlungen für den Judenschutz, der oft genug versagt hatte, machten die christlichen Herrscher zu einer sprudelnden Einnahmequelle.
Aufschwung der Wissenschaften
Zu den europäischen Phänomenen des 12. Jhs. gehört nicht zuletzt die Intensivierung und Professionalisierung des wissenschaftlichen Denkens, was so wenig wie zur Karolingerzeit einen als «Renaissance» zu bezeichnenden Selbstzweck hatte, sondern im Dienst eines vertieften Verständnisses von christlichem Glauben und sichtbarer Natur stand. Dabei stützte sich die lateinische Geistesweltweithin auf Voraussetzungen, die außerhalb von ihr geschaffen worden waren: Übersetzungen aus dem Griechischen und dem Arabischen, die, auch unter Beteiligung sprachkundiger Juden, in Spanien, Sizilien, Byzanz und den Kreuzfahrerstaaten entstanden waren und bis dahin kaum geahnte Zugänge zu Philosophie, Medizin und Naturkunde der Antike eröffneten, wozu noch die von Bologna ausgegangene Wiederbelebung der Kenntnis des römischen Rechts kam. Die Beschäftigung mit diesem Wissensstoff von großenteils vorchristlicher Provenienz setzte sich nur zögernd und gegen mancherlei theologisch begründeten Widerstand durch, hat dann aber wesentlich zur Ausformung der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen, zur begrifflichen Präzisierung und konsequenten Systematisierung ihrer Inhalte beigetragen und ganz neue Formen der gelehrten Auseinandersetzung entstehen lassen. Die Benennung tradierter Widersprüche, die Gegenüberstellung konträrer Argumente und das abwägende Bemühen um eine rationale Klärung wurden kennzeichnend für den Denkstil der Scholastik, nicht nur in der Theologie.
Bald nach 1100 zeigte sich, daß die neue Art von Wissenschaft den Rahmen der herkömmlichen Kloster- und Domschulen sprengte, die gemäß dem spätantiken Fächerkanon der «Sieben freien Künste» (
Septem liberales artes
) elementare Kenntnisse vermittelten. Höhere Ansprüche versprachen nun spezialisierte Magister zu erfüllen, die ihre Lehre öffentlich anboten und zahlende Scholaren von nah und fern anzogen, sich aber auch selbst überall dort niederließen, wo sie ihr Auskommen fanden. Bevorzugtes Zielgebiet dieser akademischen Mobilität wurden das nördliche Frankreich und das normannische England, wo an bekannten geistlichen Schulorten (Laon, Reims, Orléans, Chartres, Paris, Oxford) auch gehobener «privater» Unterricht in einzelnen
Artes
sowie Theologie und Philosophie geboten wurde; daneben hatten für die wissenschaftliche Vermittlung von (nicht zuletzt arabischer) Medizin schon früh Salerno, dann auch Chartres, Toledo und Montpellier den höchsten Ruhm gewonnen, während Bologna die Hochburg der Juristen war. In Frankreich wurde Chartres bis zur Mittedes 12. Jhs. von der prosperierenden Hauptstadt Paris überflügelt, wo Petrus Abaelardus († 1142) als gefeierter und streitbarer Lehrer der Dialektik (Logik) viele Scholaren in seinen Bann schlug und erst am Ende eines bewegten Lebens durch ein von seinen Gegnern erwirktes Lehrverbot des Papstes zum Schweigen gebracht wurde. Das Vorrecht des Kanzlers der Pariser Domkirche Notre-Dame, in der ganzen Stadt über die
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