Christmasland (German Edition)
faszinierend – wie den Blick von einer hohen Klippe in den Abgrund.
»Kein Wort mehr!«, sagte der Gasmaskenmann. »Jetzt ist der Spaß vorbei! Die Quäker mögen kein Geschrei.«
Mit einem Klicken schob Charlie Manx den Ganghebel nach vorn, und der Wagen setzte sich in Bewegung. Dann warf er noch einmal einen Blick zum Rücksitz.
»Hör nicht auf ihn«, sagte Manx zu Wayne. »Er ist ein alter Spielverderber. Ich denke schon, dass wir ein bisschen Spaß haben werden. Ich bin mir sogar sicher, dass es ziemlich lustig wird.«
Route 3
D as Motorrad sprang nicht mehr an. Es machte nicht einmal mehr vielversprechende Geräusche. Immer wieder trat V ic den Kickstarter durch, bis ihr schon die Beine wehtaten, aber nicht ein einziges Mal war das tiefe Rumpeln zu hören, das der Motor kurz vor dem Starten machte. Stattdessen gab die Maschine bloß noch ein leises Schnaufen von sich, wie jemand, der verächtlich die Luft ausstieß: fffftt.
Ihr blieb nur, zurück zu laufen.
Sie beugte sich über den Lenker und begann zu schieben. Nachdem sie drei mühevolle Schritte gemacht hatte, blieb sie stehen und sah noch einmal über die Schulter zurück. Die Brücke blieb verschwunden. Es hatte sie nie gegeben.
Während V ic weiterging, überlegte sie, wie sie das Gespräch mit Wayne anfangen sollte.
He, Kleiner, schlechte Neuigkeiten: Vom Motorrad ist eine Schraube abgefallen, und jetzt ist es kaputt. Ach ja, und in meinem Kopf ist auch ’ne Schraube locker. Ich lass mal jemand draufgucken und schick dir ’ne Postkarte aus der Anstalt.
Sie lachte, und in ihren Ohren klang das Lachen wie ein Schluchzen.
Wayne. Ich würde so gern die Mutter sein, die du verdient hast. Aber ich schaffe es einfach nicht.
Allein bei dem Gedanken daran wurde ihr übel. Selbst wenn es die Wahrheit wäre, fühlte sie sich trotzdem feige.
Wayne. Ich hoffe, du weißt, dass ich dich liebe und dass ich es wirklich versucht habe.
Der Nebel wirbelte über die Straße, und sie hatte das Gefühl, er würde direkt durch sie hindurchwehen. Für Anfang Juli war es auf einmal ungewöhnlich kühl.
In Gedanken hörte sie eine andere Stimme, stark, klar und männlich: Mach dir nichts vor, Mädchen. Du wolltest die Brücke finden. Also bist du auf die Suche gegangen. Deswegen hast du aufgehört, deine Medikamente zu nehmen. Und deswegen hast du auch das Motorrad repariert. Wovor hast du wirklich Angst? Davor, dass du verrückt bist? Oder davor, dass du es nicht bist?
V ic hörte oft die Stimme ihres V aters, die ihr unbequeme Dinge sagte, obwohl sie in den vergangenen zehn Jahren nur selten mit ihm gesprochen hatte. Warum brauchte sie eigentlich immer noch die Stimme eines Mannes, der sie ohne jedes Bedauern verlassen hatte?
Sie schob das Motorrad durch den feuchten, kühlen Nebel. Wasser perlte von der seltsamen, wachsartigen Schutzschicht der Motorradjacke ab. Wer wusste schon, woraus sie bestand, vermutlich eine Mischung aus Segeltuch, Te fl on – und Drachenhaut.
V ic nahm den Helm ab und hängte ihn über den Lenker, aber er wollte nicht halten, sondern fiel ständig auf die Straße. Deshalb setzte sie ihn schließlich doch wieder auf. Sie schob das Motorrad weiter am Straßenrand entlang. Kurze Zeit war sie versucht, die Maschine einfach stehen zu lassen und sie später zu holen, verwarf den Gedanken aber gleich wieder. Damals, als sie ihr Raleigh hatte stehen lassen, war ihr ein wichtiger Teil ihrer selbst abhandengekommen. Eine Maschine, die einen zu jedem beliebigen Ziel bringen konnte, ließ man nicht einfach im Stich.
V ielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben wünschte sich V ic, ein Handy zu besitzen. Manchmal kam es ihr so vor, als wäre sie der letzte Mensch in Amerika, der keines hatte. Sie hatte sich eingeredet, damit ihre Unabhängigkeit von den technologischen Lockmitteln des einundzwanzigsten Jahrhunderts zu demonstrieren. In Wahrheit konnte sie den Gedanken nicht ertragen, ständig ein Telefon bei sich zu haben. Und womöglich einen Anruf aus dem Christmasland zu erhalten, irgendein totes Kind, das fragte: He, Ms. McQueen, haben Sie uns vermisst?!?
Sie schob das Motorrad weiter und sang dabei leise vor sich hin. Lange Zeit bemerkte sie nicht einmal, dass sie es tat. Sie stellte sich vor, wie Wayne zu Hause am Fenster stand, in den Nebel hinausstarrte und nervös von einem Fuß auf den anderen trat.
V ic spürte eine wachsende Panik in sich aufsteigen, die der Situation gar nicht angemessen war. Das Gefühl beschlich sie, zu Hause
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