Christmasland (German Edition)
gebraucht zu werden. Sie war schon viel zu lange fort, und auch wenn sie sich vor Waynes Tränen und seiner Wut fürchtete, freute sie sich darauf, ihn wiederzusehen und zu wissen, dass alles in Ordnung war. Sie schob das Motorrad weiter und sang dabei.
»Stille Nacht, heilige Nacht.«
In diesem Moment hörte sie sich selbst und verstummte, aber in ihrem Kopf ging die Melodie weiter, wehmütig und schief. Alles schläft. Einsam wacht.
Unter dem Motorradhelm fühlte V ic sich fiebrig. Ihre Beine waren feucht und kalt vom Nebel, und ihr Gesicht war von der Anstrengung heiß und verschwitzt. Am liebsten hätte sie sich ins Gras gesetzt – nein, gelegt – und in den tief hängenden, dunstigen Himmel hinaufgeschaut. Aber dann sah sie endlich das Ferienhäuschen vor sich, ein dunkles Rechteck zu ihrer Linken, das im Nebel nur undeutlich zu erkennen war.
Inzwischen war es ziemlich dunkel geworden, und sie wunderte sich darüber, dass im Haus kein Licht brannte, abgesehen vom fahlen blauen Leuchten des Fernsehers. Es überraschte sie, dass Wayne nicht am Fenster stand und nach ihr Ausschau hielt.
Doch dann hörte sie ihn.
»Mama!«, rief er. Durch den Helm klang seine Stimme gedämpft, wie aus weiter Ferne.
Sie senkte den Kopf. Es ging ihm gut.
»Ich komme«, rief sie erschöpft zurück.
Sie hatte beinahe die Einfahrt erreicht, als sie ein Auto im Leerlauf tuckern hörte. Sie blickte auf. Scheinwerfer leuchteten im Nebel. Der Wagen, zu dem sie gehörten, stand am Straßenrand, aber kaum dass sie ihn entdeckt hatte, setzte er sich in Bewegung.
V ic stand da und sah zu, wie das Auto durch den Nebel auf sie zukam. Als sie es erkannte, war sie nicht gänzlich überrascht. Sie hatte Charlie Manx ins Gefängnis gebracht und seinen Nachruf gelesen, und dennoch hatte sie insgeheim ständig damit gerechnet, ihn und seinen Rolls-Royce wiederzusehen.
Der Wraith kam aus dem Nebel geglitten – ein schwarzer Schlitten, der eine Wolke durchteilte und Dezemberfrost hinter sich herzog. Der weiße Dunst verdampfte auf dem verbeulten und rostigen Nummernschild: NOS4A2 .
V ic ließ das Motorrad los, das mit einem lauten Krachen zu Boden fiel. Der Spiegel auf der linken Seite des Lenkers zerbarst.
Sie drehte sich um und rannte.
Der Holzzaun befand sich zu ihrer Linken. In zwei Schritten war sie dort und kletterte hinauf. Sie hatte gerade die oberste Latte erreicht, als sie den Wagen hinter sich die Böschung hinauffahren hörte. Sie sprang und landete auf dem Rasen, taumelte weiter und vernahm noch im selben Moment, wie der Wraith den Zaun traf.
Eine Holzlatte segelte wie ein Rotorblatt durch die Luft – wop, wop, wop – und traf sie an der Schulter. Sie wurde von den Füßen gerissen und stürzte in einen bodenlosen Abgrund, der mit kaltem, wirbelndem Nebel gefüllt war.
Das Haus am See
A ls der Wraith gegen den Holzzaun krachte, wurde Wayne vom Rücksitz auf den Boden geschleudert. Seine Zähne schlugen heftig aufeinander.
Holzlatten zerbrachen und flogen durch die Luft. Eine von ihnen landete polternd auf der Motorhaube. In Waynes V orstellung war es der Körper seiner Mutter, der gegen den Wagen prallte. Er schrie auf.
Manx zog die Handbremse an und wandte sich dem Gasmaskenmann zu.
»Ich will nicht, dass er das mit ansehen muss«, sagte Manx. »Schlimm genug, dass er seinen Hund hat sterben sehen. Kannst du ihn bitte in Schlaf versetzen, Bing? Du siehst ja, wie erschöpft er ist.«
»Ich sollte Ihnen mit der Frau helfen.«
»Danke, Bing. Das ist sehr aufmerksam von dir. Aber ich schaffe das schon.«
Der Wagen wackelte, als die Männer ausstiegen.
Wayne kam auf die Knie und blickte durch die Windschutzscheibe in den V orgarten.
Mit dem silbernen Hammer in der Hand ging Charlie Manx um die V orderseite des Wagens herum. Waynes Mutter lag inmitten von zerbrochenen Holzlatten im Gras.
Die linke Tür zum Rücksitz wurde geöffnet, und der Gasmaskenmann kam hineingeklettert. Wayne warf sich nach rechts, um zur anderen Tür zu gelangen, aber der Mann packte ihn am Arm und zog ihn zu sich heran.
In einer Hand hielt er eine kleine blaue Sprühdose. Darauf stand: LUFTERFRISCHER MIT LEBKUCHENDUFT über einem Bild von einer Frau, die ein Blech mit Lebkuchenmännern aus dem Herd holte.
»Ich werde dir erzählen, was das ist«, sagte der Lebkuchenmann. »Hier steht zwar Lebkuchenduft, aber eigentlich riecht es nach Schlafenszeit. Wenn du das einatmest, wachst du so schnell nicht wieder auf.«
»Nein!«, schrie Wayne.
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