Christmasland (German Edition)
geben, es ungeschehen zu machen.«
»Warum? Um deinem V ater die Gelegenheit zu geben, stattdessen dich umzubringen? In der Zeitung stand, bevor du ihn erschossen hast, hätte er dich so heftig geschlagen, dass du einen Schädelbruch erlitten hast. Es hieß, du hättest zahllose Blutergüsse gehabt, manche schon mehrere Tage alt! Ich hoffe, dass ich dir den Unterschied zwischen Mord und Notwehr nicht erklären muss!«
»Aber meiner Mutter habe ich auch wehgetan«, flüsterte Bing. »In der Küche. Und sie hat mir nie ein Haar gekrümmt.«
Mr. Manx schien das nicht weiter zu beeindrucken. »Und wo war sie, als dein V ater dich vermöbelt hat, hm? Ist sie etwa heldenhaft dazwischengegangen? Hat sie sich schützend vor dich gestellt? Nein? Wie kommt es, dass sie nie die Polizei gerufen hat? Hat sie die Nummer im Telefonbuch nicht gefunden?« Manx stieß ein müdes Seufzen aus. »Ich wünschte, jemand wäre für dich da gewesen, Bing. Das Feuer der Hölle ist nicht heiß genug für jemand – egal, ob Mann oder Frau –, der seinen Kindern etwas antut. Aber mir geht es weniger um Strafe als um V orbeugung! Am besten wäre es, wenn dir das einfach nie passiert wäre! Wenn du in einem sicheren Zuhause aufgewachsen wärst. Wenn für dich jeden Tag Weihnachten gewesen wäre, Bing, und dein Leben nicht ein ewiges Jammertal. Da sind wir sicher einer Meinung!«
Bing starrte ihn benommen an. Er hatte das Gefühl, tagelang nicht geschlafen zu haben, und er kämpfte dagegen an, in den Ledersitz zurückzusinken und wegzunicken.
»Ich glaube, ich schlafe gleich ein«, sagte Bing.
»Schon in Ordnung, Bing«, sagte Charlie. »Der Weg ins Christmasland ist mit Träumen gepflastert!«
Weiße Blüten kamen von irgendwoher herabgeschwebt und fielen auf die Windschutzscheibe. Bing freute sich über den Anblick. In dem Wagen war es warm, und er war schläfrig, und er mochte Charlie Manx. Das Feuer der Hölle ist nicht heiß genug für jemand – egal, ob Mann oder Frau –, der seinen Kindern etwas antut. Ein schöner Satz, der nach moralischer Gewissheit klang. Charlie Manx war ein Mann, der sich in der Welt auskannte.
»Hm, hm, hm, hm«, sagte Charlie Manx.
Bing nickte – auch dieser Satz klang nach moralischer Gewissheit und Weisheit. Er deutete auf die Blüten, die auf die Windschutzscheibe herabgeregnet kamen. »Es schneit!«
»Ha!«, sagte Charlie Manx. »Das ist kein Schnee. Ruh dich aus, Bing Partridge. Ruh dich aus. Dann wirst du es sehen.«
Bing Partridge gehorchte.
Er schloss seine Augen nur für einen kurzen Moment. Aber dieser Moment schien ewig zu dauern, sich endlos in die Länge zu ziehen – eine friedliche, schläfrige Dunkelheit, die nur vom Dröhnen der Reifen auf der Straße erfüllt war. Bing atmete aus und atmete wieder ein. Dann öffnete er die Augen und fuhr in die Höhe. Durch die Windschutzscheibe blickte er auf
Die Straße zum Christmasland
D ie Nacht war hereingebrochen, und die Scheinwerfer des Wraiths bohrten sich in eine frostige Dunkelheit. Weiße Flecken rasten durch die Lichtkegel und klickten leise gegen die Windschutzscheibe.
» Das ist Schnee!«, rief Charlie Manx hinter dem Steuer.
Bing war mit einem Mal hellwach, als hätte jemand in seinem Inneren einen Schalter umgelegt. Sämtliches Blut in seinem Körper schien in sein Herz strömen zu wollen. Wäre er mit einer Granate auf dem Schoß aufgewacht, es hätte ihn kaum tiefer erschüttern können.
Der Himmel war halb mit Wolken bedeckt. Die andere Hälfte war jedoch mit einer V ielzahl von Sternen gesprenkelt. Und mitten unter ihnen befand sich der Mond – der mit der Hakennase und dem breiten Lächeln. Sein gelbes Auge unter dem halb geschlossenen Lid war auf die Straße gerichtet.
Die Straße wurde von missgestalteten Tannen gesäumt. Bing musste zweimal hinschauen, bis er erkannte, dass es gar keine Tannen waren, sondern Gummibonbonbäume.
»Christmasland«, flüsterte Bing.
»Nein«, sagte Charlie Manx. »Bis dahin ist es noch ein Stück. Mindestens zwanzig Stunden Fahrtzeit. Aber es ist dort draußen. Im Westen. Und einmal im Jahr, Bing, nehme ich jemand dorthin mit.«
»Mich?«, fragte Bing mit versagender Stimme.
»Nein, Bing«, erwiderte Charlie sanft. »Noch nicht in diesem Jahr. Kinder sind im Christmasland immer willkommen, aber mit Erwachsenen ist es etwas anderes. Du musst dich erst als würdig erweisen. Deine Liebe zu Kindern unter Beweis stellen und deine Entschlossenheit, sie zu beschützen und dem Christmasland
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