Christmasland (German Edition)
zu dienen.«
Sie kamen an einem Schneemann vorbei, der seinen Zweigarm hob und winkte. Unwillkürlich winkte Bing zurück.
»Wie?«, flüsterte er.
»Mit mir zusammen musst du zehn Kinder retten, Bing. Du musst sie vor den Monstern bewahren.«
»Den Monstern? Was für Monster?«
»Ihren Eltern«, sagte Manx ernst.
Bing wandte das Gesicht von der eiskalten Scheibe des Beifahrerfensters ab und sah Charlie Manx an. Bevor er eben kurz die Augen geschlossen hatte, war noch ein wenig Sonnenlicht am Himmel zu sehen gewesen, und Mr. Manx hatte ein einfaches weißes Hemd und Hosenträger angehabt. Jetzt trug er einen Frack und einen dunklen Hut mit schwarzer Lederkrempe. An dem Frack befanden sich zwei Reihen Messingknöpfe. Er erinnerte an die Uniform eines Offiziers aus einem fremden Land, eines Leutnants der königlichen Garde zum Beispiel. Als Bing an sich selbst hinabblickte, stellte er fest, dass auch er andere Kleidung anhatte: die gestärkte, weiße Ausgehuniform, die sein V ater bei der Marine getragen hatte, dazu blank polierte schwarze Stiefel.
»Träume ich?«, fragte Bing.
»Ich hab’s dir ja gesagt«, erwiderte Manx. »Die Straße zum Christmasland ist mit Träumen gepflastert. Dieser alte Wagen kann die Realität hinter sich lassen und auf die geheimen Straßen der Fantasie gelangen. Der Schlaf ist nur die Ausfahrt. Wenn einer meiner Passagiere einschläft, verlässt der Wraith die Wirklichkeit und fährt auf den St. Nick Parkway. Du und ich, wir teilen uns diesen Traum. Zwar bist du derjenige, der ihn träumt, Bing, aber es ist mein Wagen. Komm. Ich will dir etwas zeigen.«
Während er sprach, bremste er ab und fuhr an den Straßenrand. Schnee knirschte unter den Reifen des Wagens. Im Scheinwerferlicht war rechts von der Straße eine Gestalt zu sehen. Aus der Entfernung sah sie aus wie eine Frau in einem weißen Kleid. Sie stand sehr still, ohne zu den Scheinwerfern des Wraiths herüberzusehen.
Manx beugte sich vor und öffnete das Handschuhfach über Bings Knien. Darin befand sich das übliche Durcheinander aus Landkarten und Papieren. Bing sah auch eine Taschenlampe mit einem langen chromfarbenen Griff.
Ein orangenes Tablettenröhrchen rollte aus dem Fach. Bing fing es mit einer Hand auf. HANSOM, DEWEY – VALIUM 50 MG stand darauf.
Manx nahm die Taschenlampe und öffnete die Tür. »Das letzte Stück müssen wir zu Fuß gehen.«
Bing hielt das Röhrchen hoch. »Haben Sie … haben Sie mir ein Schlafmittel gegeben, Mr. Manx?«
Manx zwinkerte ihm zu. »Nichts für ungut, Bing. Ich wusste, dass du so schnell wie möglich auf die Straße zum Christmasland gelangen willst. Und das geht nur im Schlaf. Ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel.«
Bing sagte: »Nein, schon in Ordnung.« Er zuckte mit den Schultern. Dann warf er noch einen Blick auf das Röhrchen. »Wer ist Dewey Hansom?«
»Er war wie du, Bing. Dein V orgänger. Ein Filmagent in Los Angeles, der sich auf Kinderdarsteller spezialisiert hatte. Er hat mir geholfen, zehn Kinder zu retten, und sich damit einen Platz im Christmasland verdient! Oh, die Kinder des Christmaslands haben Dewey geliebt, Bing. Sie hatten ihn zum Fressen gern! Komm mit!«
Bing öffnete seine Tür und stieg aus. Klare, frostige Luft schlug ihm entgegen. Die Nacht war vollkommen windstill. Der Schnee rieselte langsam herab und küsste ihn auf die Wangen. Für sein hohes Alter (Warum halte ich ihn nur immer für einen alten Mann?, fragte sich Bing. Er sieht gar nicht so alt aus.) war Charles Manx erstaunlich agil. Mit quietschenden Stiefeln lief er vor Bing den Straßenrand entlang. Bing folgte ihm und schlang die Arme um sich. In der dünnen Ausgehuniform fröstelte es ihn.
V or ihm tauchte nicht eine, sondern zwei weiß gekleidete Frauen auf, die ein schwarzes Eisentor flankierten. Sie waren identisch und bestanden aus glänzendem Marmor. Leicht vorgebeugt breiteten sie die Arme aus. Ihre knochenweißen Kleider bauschten sich hinter ihnen wie Engelsflügel. Mit ihren vollen Lippen und blinden Augen besaßen ihre Gesichter die ruhige Schönheit klassischer Statuen. Ihre Münder waren leicht geöffnet, als würden sie gerade Luft holen, um zu lachen – oder vor Schmerz aufzuschreien. Der dünne Stoff ihrer Kleider schmiegte sich eng an ihre Brüste.
Manx ging zwischen den beiden Frauen durch das Tor. Bing blieb jedoch noch einen Moment stehen. Er hob rasch die Hand und strich über eine der kalten, spitzen Brüste. Eine solche Brust hatte er schon immer mal
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