Christmasland (German Edition)
lag, war so schwarz wie ein Ölteppich, in dem Sterne schwammen: Sterne, die sich in gefrorenen Flüssen und impressionistischen Wirbeln drehten. Alles war tausendmal plastischer, aber mindestens genauso falsch wie der Himmel, den V ic so oft in ihren Search-Engine -Büchern gemalt hatte. Die Welt hörte hier wirklich auf: Sie blickte auf die kalte, unergründliche Grenze der V orstellungskraft von Charlie Manx.
Die Lichter an dem großen Weihnachtsbaum gingen ohne V orwarnung an, und tausend elektrische Kerzen warfen ihren Schein auf die Kinder, die sich um den Baum versammelt hatten.
Einige wenige saßen auf den unteren Ästen des Baums, aber die meisten – etwa dreißig vielleicht – standen darunter, in Nachtgewändern, Pelzmänteln und Ballkleidern, die seit fünfzig Jahren außer Mode waren, in Overalls oder Polizeiuniformen. Auf den ersten Blick schienen alle filigrane Masken aus weißem Glas zu tragen. Alle lächelten, hatten Grübchen auf den Wangen, und ihre Lippen waren zu voll und zu rot. Bei näherem Hinsehen wurden aus den Masken Gesichter. Die Haarrisse in den Gesichtern waren Blutgefäße, die durch die Haut hindurchschimmerten. Die zu einem unnatürlichen Lächeln verzerrten Münder enthielten mehrere Reihen winziger spitzer Zähne. V ic musste an antike Porzellanpuppen denken. Manx’ Kinder waren keine Kinder, sondern kalte Puppen mit Zähnen.
Ein Junge saß auf einem Ast, in der Hand ein gezacktes Bowie-Messer so lang wie sein Unterarm.
Ein Mädchen hielt eine Kette, an der ein Haken baumelte.
Ein drittes Kind – ob Junge oder Mädchen, konnte V ic nicht erkennen – schwang ein Hackbeil und trug eine Schnur mit blutigen Daumen und Fingern um den Hals.
V ic war jetzt nahe genug, um den Schmuck betrachten zu können, der den Baum zierte. Bei dem Anblick stockte ihr der Atem. Köpfe mit lederner Haut, schwarz, aber nicht verwest und von der Kälte teilweise konserviert. Die Gesichter hatten Löcher anstelle der Augen. Münder waren zu lautlosen Schreien geöffnet. Der körperlose Kopf eines schmalgesichtigen Mannes mit blondem Spitzbart trug eine Brille mit grünen Gläsern und herzförmigem, mit Glitzersteinen besetztem Gestell. Die einzigen erwachsenen Gesichter weit und breit.
Der Wraith stellte sich auf der Straße quer und hielt an. V ic schaltete in den ersten Gang, bremste und blieb zehn Meter entfernt ebenfalls stehen.
Einige der Kinder kamen unter dem Baum hervor und schwärmten aus, wobei die meisten gemächlich zum Wraith hinüberschlenderten und wie ein menschlicher Schutzwall einen Kreis um ihn bildeten. Oder vielleicht eher ein nichtmenschlicher Schutzwall.
»Lass ihn gehen, Manx!«, brüllte V ic. Ihr zitterten vor Angst und Kälte die Knie. Und sie brauchte ihre ganze Willenskraft, um sich nichts anmerken zu lassen. Die schneidende nächtliche Kälte stach ihr in die Nase, brannte ihr in den Augen. Wohin sie auch blickte, überall sah sie grässliche Dinge. Am Baum hingen die Köpfe der Erwachsenen, die das Pech gehabt hatten, den Weg ins Christmasland zu finden. V ic war von Manx’ leblosen Marionetten mit ihren leblosen Augen und ihrem leblosen Lächeln eingekreist.
Die Tür des Wraiths ging auf, und Charlie Manx stieg aus.
Er richtete sich zu seiner ganzen Größe auf und setzte sich einen Hut auf – Maggies Fedora, wie V ic erkannte. Er zupfte die Krempe zurecht. Inzwischen war Manx jünger als V ic und beinahe attraktiv, mit hohen Wangenknochen und einem spitzen Kinn. Immer noch fehlte ihm ein Stück seines linken Ohrs, aber das Narbengewebe war rosafarben und glatt. Nur der stattliche Überbiss ließ ihn ein wenig debil aussehen. In einer Hand hielt er den Silberhammer. Er schwang ihn träge hin und her – das Pendel einer Uhr, die an einem Ort die Sekunden zählte, wo Zeit keine Rolle spielte.
Das Schnarchen des Mondes ließ die Erde erzittern.
Manx lächelte V ic an und zog vor ihr den Hut, doch dann wandte er sich den Kindern zu, die unter den Ästen des unfassbar großen Baumes hervor auf ihn zukamen. Seine langen Rockschöße tanzten im Kreis.
»Hallo, meine Kleinen«, sagte er. »Was habe ich euch doch vermisst! Lasst uns das Licht anmachen, damit ich euch besser sehen kann.«
Er griff mit der freien Hand nach oben und zog an einer unsichtbaren Schnur, die in der Luft hing.
Die Schlittenachterbahn leuchtete auf, ein verschlungenes Band aus blauen Lichtern. Das Riesenrad erstrahlte in hellem Glanz. Irgendwo in der Nähe begann sich ein Karussell zu
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