Christmasland (German Edition)
und pulverisierten Backstein ein. Dann verklang der Widerhall der Explosion, und der Himmel nahm wieder seine frühere Gestalt an.
Der Mond schrie und schrie, ein Geräusch, das fast so laut und brachial war wie die Explosion.
V ic raste an einem Spiegelkabinett vorbei, an einem Wachsfigurenkabinett und weiter bis zu dem hell erleuchteten Karussell, auf dem anstelle von Pferden Rentiere kreisten. Dort bremste sie ab, und das Motorrad kam schlitternd zum Stillstand. V ics Haare kräuselten sich von der Hitze der Explosion. Das Herz pochte ihr laut in der Brust.
Sie blickte zu dem Trümmerfeld zurück, wo gerade noch der Marktplatz gewesen war. Sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, was sie da sah. Erst ein Kind, dann noch eins und schließlich ein drittes tauchte aus dem Qualm auf und kam auf sie zu. V on einem von ihnen stieg noch Rauch auf, und es hatte verkohlte Haare. Auf der anderen Straßenseite erhoben sich noch ein paar. V ic sah einen Jungen, der sich vorsichtig die Glassplitter aus den Haaren strich. Er hätte tot sein müssen, schließlich war er gegen eine Backsteinmauer geschleudert worden, dennoch stand er einfach auf, und V ic stellte fest, dass ihr müder V erstand nicht allzu überrascht war. Die Kinder waren bereits tot gewesen, bevor die Bombe explodiert war. Sie waren jetzt immer noch genauso tot – und würden sich nicht davon abbringen lassen, sich auf sie zu stürzen.
Sie schwang den Rucksack von der Schulter und schaute hinein. Es war nichts verloren gegangen. Lou hatte vier Zeitschaltuhren an vier Beutel mit ANFO angeschlossen, und einer davon war jetzt verbraucht. Unten im Rucksack waren noch weitere Beutel, allerdings ohne Zeitschaltuhren.
V ic warf sich den Rucksack wieder über die Schulter und fuhr an dem Rentierkarussell vorbei ein paar Hundert Meter weiter in den Park hinein bis zu der Schlittenachterbahn.
Leere Wagen, die wie rote Schlitten aussahen, brausten über die Schienen. Es handelte sich um eine altmodische Holzachterbahn aus den Dreißigerjahren. Den Eingang bildete ein großes, leuchtendes Weihnachtsmanngesicht – die Besucher schritten durch den weit aufgesperrten Mund.
V ic zog einen Beutel ANFO aus dem Rucksack, stellte die Zeitschaltuhr auf fünf Minuten und warf ihn dem Weihnachtsmann in den Rachen. Sie wollte gerade weiterfahren, als ihr Blick noch einmal auf die Achterbahn fiel und sie die mumifizierten Leichen entdeckte: Dutzende gekreuzigter Männer und Frauen mit schwarzer, vertrockneter Haut, die Augen ausgerissen, die Kleider schmutzige, steif gefrorene Lumpen. Eine Frau in rosafarbenen Stulpen, auf denen die Jahreszahl 1984 prangte, hing mit nacktem Oberkörper da; Weihnachtsschmuck baumelte an ihren gepiercten Brüsten. Daneben hing ein verschrumpelter Mann in Jeans und einem dicken Mantel. Er trug einen Jesus-Bart und anstelle einer Dornenkrone einen Stechpalmenkranz auf dem Kopf.
V ic starrte immer noch zu den Leichen hinauf, als ein Kind aus der Dunkelheit trat und ihr ein Küchenmesser ins Kreuz rammte.
Der Junge war bestimmt nicht älter als zehn, hatte Grübchen auf den Wangen und lächelte herzallerliebst. Er war barfuß, trug eine Latzhose und ein kariertes Hemd. Mit seinen blonden Ponyfransen und dem heiteren Blick sah er aus wie Tom Sawyer. Das Messer steckte V ic bis zum Heft im Rücken. Sie verspürte einen Schmerz, der alles übertraf, was sie jemals erlebt hatte, und dachte überrascht: Er hat mich umgebracht. Ich bin gerade gestorben.
Tom Sawyer zog das Messer heraus und lachte fröhlich. Wayne hatte nie so heiter und unbefangen gelacht. V ic hatte nicht die geringste Ahnung, wo dieser Junge plötzlich hergekommen war. Offenbar war er einfach aus dem Nichts aufgetaucht; die Nacht hatte sich verdichtet und ein Kind geschaffen.
»Lass uns was spielen«, sagte er. »Bleib hier, und spiel das Scherenspiel mit mir.«
Sie hätte ihn schlagen oder treten können, irgendetwas. Stattdessen gab sie Gas und donnerte davon. Er sah ihr nach, die Klinge in der Hand, an der ihr Blut glänzte. Er lächelte immer noch, aber er hatte die Stirn gerunzelt und wirkte verwirrt, als würde er sich fragen: Habe ich etwas falsch gemacht?
Die Zeitschaltuhren waren ungenau. Der erste ANFO -Beutel war auf ungefähr fünf Minuten eingestellt gewesen, hatte jedoch fast zehn gebraucht. Die Zeitschaltuhr am zweiten Sack hatte sie so eingestellt, dass ihr eigentlich noch genug Zeit zur Flucht hätte bleiben sollen. Aber als sie noch keine hundert Meter
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