Christmasland (German Edition)
mit ihrem Rad zu Terry’s Primo Subs gefahren und hatte dort den Armreif ihrer Mutter geholt. Das hatte sie sich nicht bloß eingebildet, sie hatte es wirklich getan.
Sie klopfte an die Autoscheibe. Der Junge rührte sich nicht. Er war jünger als sie, ungefähr zwölf. Seine Oberlippe war von einem feinen Flaum bedeckt.
»He«, rief sie leise. »He, Junge.«
Er bewegte sich, aber nur um sich auf die Seite zu rollen, sodass er nun mit dem Rücken zu ihr lag.
V ic rüttelte an der Wagentür, aber sie war von innen verriegelt.
Das Lenkrad befand sich auf der rechten Seite des Wagens, wo sie stand. Das Fenster war fast ganz heruntergekurbelt. V ic schob sich darauf zu. Zwischen dem Auto und dem Gerümpel an der Garagenwand war nicht viel Platz.
Die Schlüssel steckten im Zündschloss, und die Batterie war an. Das Radio leuchtete giftgrün. V ic kannte den Sänger nicht, der gerade zu hören war, irgend so ein alter Knacker aus Las V egas, aber es war wieder ein Weihnachtslied. Weihnachten lag beinahe drei Monate zurück, und Weihnachtsmusik im Frühling hatte etwas Gruseliges. Wie ein Clown im Regen, dem das Make-up verlief.
»He, Junge«, zischte sie. »Junge, wach auf.«
Der Junge regte sich. Dann setzte er sich auf und blickte zu ihr hinüber. Als V ic sein Gesicht sah, musste sie einen Aufschrei unterdrücken. Etwas Ähnliches hatte sie noch nie gesehen. Der Junge im Auto schien dem Tode nahe – oder sogar schon darüber hinaus. Er hatte ein bleiches Mondgesicht mit dunklen Ringen unter den Augen. Schwarze, vergiftete Adern zeichneten sich unter seiner Haut ab, als wären sie statt mit Blut mit Tinte gefüllt. Sie verästelten sich krankhaft an seinem Mund, den Augen und den Schläfen. Sein Haar hatte die Farbe von Raureif auf einer Fensterscheibe.
Er blinzelte. Seine Augen leuchteten neugierig. Sie schienen das einzig Lebendige an ihm zu sein.
Als er ausatmete, stand ihm der Atem in einer Dampfwolke vor dem Gesicht, so als würde er sich in einer Kühlkammer befinden.
»Wer bist du?«, fragte er. Mit jedem Wort kam eine weitere Dampfwolke aus seinem Mund. »Du solltest nicht hier sein.«
»Warum ist dir so kalt?«
»Mir ist nicht kalt«, sagte er. »Du solltest gehen. Hier ist es nicht sicher.«
Sein Atem dampfte.
»O Gott, Junge«, sagte sie. »Ich kann dich da rausholen. Komm. Komm mit mir.«
»Ich kann die Tür nicht öffnen.«
»Dann klettre auf den V ordersitz«, sagte sie.
»Das geht nicht«, sagte er. Er redete so, als würde er unter Drogen stehen, und V ic kam der Gedanke, dass er betäubt worden sein musste. Konnte eine Droge die Körpertemperatur so weit absenken, dass der Atem dampfte? Das konnte sie sich eigentlich nicht vorstellen. »Ich kann nicht vom Rücksitz weg. Du solltest wirklich nicht hier sein. Er wird bald zurückkommen.« Weiße, gefrorene Luft tröpfelte aus seinen Nasenlöchern.
V ic hörte seine Worte, verstand aber nur die Hälfte. Der letzte Satz – er wird bald zurückkommen – war sonnenklar. Natürlich würde er zurückkommen – wer immer er war (der Wraith). Er hätte den Schlüssel nicht stecken lassen, wenn er nicht bald zurückkehren würde. Und bis dahin mussten sie beide von hier verschwunden sein.
Am liebsten wäre sie zur Tür hinausgelaufen und hätte dem Jungen gesagt, dass sie die Polizei holen würde. Aber das konnte sie nicht. Wenn sie jetzt weglief, würde sie nicht nur ein krankes entführtes Kind im Stich lassen, sondern auch ihre eigene bessere Hälfte.
Sie griff durch das Wagenfenster, entriegelte die V ordertür und öffnete sie.
»Komm schon«, sagte sie. »Nimm meine Hand.«
Sie streckte den Arm über den Fahrersitz in den Fond.
Einen Moment lang betrachtete der Junge nachdenklich ihre Handfläche, als wollte er ihr die Zukunft voraussagen oder als hätte sie ihm Schokolade angeboten und er überlegte nun, ob er sie annehmen sollte. Für ein entführtes Kind war sein V erhalten ziemlich rätselhaft, dachte V ic, und als er sie am Handgelenk packte, gelang es ihr nicht rechtzeitig, ihre Hand zurückzuziehen.
Bei seiner Berührung schrie sie auf. Es war beinahe so, als hätte sie eine heiße Bratpfanne angefasst. Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, dass es nicht Hitze, sondern Kälte war, die sie spürte.
Die Hupe ertönte. In der engen Garage war der Lärm beinahe unerträglich. V ic wusste nicht, warum sie losgegangen war. Sie hatte das Lenkrad nicht angerührt.
»Lass los!«, sagte sie. »Du tust mir weh.«
»Ich weiß«,
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