Christmasland (German Edition)
Nachrichten, nur Chöre, die dem Herrn dankten. Eartha Kitt versprach, ein braves Mädchen zu sein, wenn Santa ihr ihre Wünsche erfüllte.
Im Geist sah Nathan das Handy vor sich, das auf dem Arbeitstisch in der Garage lag. Hatte Michelle schon dort nach ihm gesucht? Bestimmt – sobald sie nach Hause gekommen war und gesehen hatte, dass das Garagentor offen stand, die Garage selbst aber leer war. Inzwischen machte sie sich wahrscheinlich große Sorgen, und er wünschte sich, er hätte das Handy mitgenommen. Nicht um Hilfe zu rufen – er war sich ziemlich sicher, dass ihm nicht mehr zu helfen war –, sondern um noch einmal Michelles Stimme zu hören. Er wollte sie anrufen und ihr sagen, dass sie trotzdem zum Abschlussball gehen und Spaß haben sollte. Und dass er sich nicht davor fürchtete, dass sie eine Frau war – eher schon davor, dass er ohne sie alt und einsam werden würde. Aber darüber musste er sich jetzt wohl keine Gedanken mehr machen. Er wollte ihr sagen, dass sie das Beste war, was ihm im Leben passiert war. Das hatte er ihr länger nicht mehr gesagt und insgesamt wohl auch nicht oft genug.
Nachdem er nun sechs Stunden in dem Auto festsaß, spürte er keine Panik mehr, nur noch eine benommene V erwunderung. Irgendwie hatte er sich mit seiner Situation abgefunden. Früher oder später wurde jeder von einem schwarzen Auto abgeholt. Man verließ in ihm die Menschen, die man liebte, um nie mehr zu ihnen zurückzukehren.
Es weihnachtet sehr, sang Perry Como mit fröhlicher Stimme.
»Was du nicht sagst, Perry«, murmelte Nathan und begann dann mit rauer, brechender Stimme zu singen, wobei er im Takt gegen die Fahrertür klopfte. Er sang einen Song von Bob Seger über den guten, alten Rock ’n’ Roll – Balsam für die Seele. Er brüllte, so laut er konnte, eine Strophe nach der anderen, und als er schließlich fertig war, stellte er fest, dass sich das Radio ausgeschaltet hatte.
Na, wenn das mal kein Weihnachtsgeschenk war. V ermutlich das letzte, das er jemals erhalten würde.
*
Als er das nächste Mal die Augen öffnete, lag er mit dem Gesicht auf dem Lenkrad, und der Wagen tuckerte im Leerlauf. Um ihn herum war es so hell, dass es ihm in den Augen wehtat.
Er blinzelte, aber außer ein paar verschwommenen blauen Schemen konnte er nichts erkennen. Während der ganzen Nacht hatte sein Kopf nicht so wehgetan wie jetzt. Er glaubte schon, sich übergeben zu müssen. Hinter seinen Augen blitzte es schmerzhaft gelb auf. Das Sonnenlicht war eine einzige Qual.
Er zwinkerte die Tränen weg, und die Welt begann langsam, Gestalt anzunehmen.
Ein dicker Mann mit Gasmaske und einem Tarnanzug starrte durch das Fenster auf der Fahrerseite zu ihm herein. Es war eine alte, senfgrüne Gasmaske, vermutlich aus dem Zweiten Weltkrieg.
»Wer zum Teufel sind Sie?«, fragte Nathan.
Das Gesicht des Mannes war nicht zu erkennen, aber Nathan hatte den Eindruck, dass er aufgeregt auf den Zehen wippte.
Die Türverriegelung auf der Fahrerseite schoss mit einem stählernen Knall nach oben.
Der dicke Mann hatte etwas in der Hand – einen Zylinder, der aussah wie eine Sprühdose. LUFTERFRISCHER MIT LEB KUCHENDUFT stand an der Seite, über einer altmodischen Zeichnung, auf der eine fröhliche Hausfrau Lebkuchenmänner aus dem Ofen holte.
»Wo bin ich?«, fragte Nathan Demeter. »Was ist das hier für ein Ort?«
Der Gasmaskenmann öffnete die Tür und ließ den Duft des Frühlingsmorgens herein.
»Endstation«, sagte er.
St. Luke’s Medical Center, Denver
W enn irgendwelche interessanten Leute starben, machte Hicks immer ein Foto mit ihnen.
Zum Beispiel war da mal eine Nachrichtensprecherin gewesen, eine hübsche Zweiunddreißigjährige mit herrlichem weißblonden Haar und blassblauen Augen, die sich betrunken hatte und an ihrer eigenen Kotze erstickt war. Um ein Uhr nachts hatte sich Hicks in die Leichenhalle geschlichen, das Kühlfach herausgezogen und die Frau aufgesetzt. Er hatte einen Arm um sie gelegt, sich vorgebeugt, um mit der Zunge ihre Brustwarze zu lecken, und dann mit dem Handy ein Foto geschossen. Natürlich hatte er nicht wirklich darübergeleckt. Das wäre eklig gewesen.
Einmal war auch ein Rockstar in der Leichenhalle gewesen – na jedenfalls so ein halber Star. Er hatte in der Band gespielt, die den Hit aus diesem Stallone-Film gelandet hatte. Der Rockstar war an Krebs gestorben und hatte nach seinem Tod wie eine vertrocknete alte Frau ausgesehen, mit dünnem braunen Haar, langen Wimpern und
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