Christopher Ross, Clarissa – Im Herzen die Wildnis
Hockeystar der Klasse verliebt hat. Du bist eine erwachsene Frau, die das Leben einschätzen kann und aus Erfahrung weiß, dass nicht alles so sein kann, wie man es sich in seinen Träumen ausmalt. Du hast die jungen Fischer in Vancouver kennengelernt und mit eigenen Augen gesehen, dass die große Liebe von heute schon morgen nur noch in der Erinnerung bestehen kann. Sei auf alles gefasst, und mach dir nicht zu viele Hoffnungen. Sei Alex dafür dankbar, dass er dich davor bewahrt hat, von diesem Crazy Joe und seinem Indianer eingeholt zu werden, und dass du bei dieser netten Frau einen Unterschlupf gefunden hast. Du hast, weiß Gott, andere Sorgen als deine mädchenhafte Begeisterung für den Mann aus der Wildnis.
Doch so sehr sie sich auch anstrengte, ihre Gedanken kreisten weiter um Alex, und sie brauchte nur die Augen zu schließen und den zarten Duft des Rosenwassers einzuatmen, um sein Gesicht vor sich zu sehen, seine dunklen Augen, die leicht hervorstehenden Wangenknochen, das kantige Kinn und die dünnen und doch so verlockenden Lippen, die ihren Mund verschlossen und sie in eine Traumwelt entführten, die sie selbst als junges Mädchen nicht für möglich gehalten hätte. Sie war eine Spätentwicklerin, stellte sie schmunzelnd fest, eine erwachsene Frau, die sich wie ein junges Mädchen für einen Mann begeisterte, während andere Frauen in ihrem Alter längst verheiratet waren. War sie naiv? Oder hatte sie das Glück, die große Liebe zu erleben, mit einem Mann, der sich in der Wildnis die Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit bewahrt hatte, die man bei den Männern in der Stadt nur ganz selten fand?
Sie war so in ihre Träume versunken, dass sie gar nicht merkte, wie sie langsam einnickte. Erst als das Wasser schon kalt geworden war, stieg sie aus der Wanne und trocknete sich gründlich ab. In ihrer neuen Unterwäsche setzte sie sich auf den Bettrand. Viel zu erschöpft, um den neuen Rock und die Bluse anzuziehen und sich die Haare zu richten, sank sie auf die Kissen, ungeachtet des rhythmischen Hämmerns, das von der nahen Schmiede herüberdrang, und schloss die Augen. Sekunden später war sie eingeschlafen. Sie merkte nicht, wie die Witwe Barnes leise die Tür öffnete, lächelnd eine Decke über sie breitete und sagte: »Schlaf dich erst mal aus, Schätzchen!«
In ihren Träumen wirbelte alles durcheinander. Inmitten eines stürmischen Blizzards sah sie das Gesicht von Frank Whittler, hörte sein spöttisches Lachen und seine Stimme: »Glaub ja nicht, dass du dich vor mir verstecken kannst und jetzt in Sicherheit bist. Ich finde dich, und wenn ich bis ans Ende der Welt laufen muss! Ich werde dir zeigen, was es heißt, sich einem Mann wie mir zu verweigern. Mach dich auf was gefasst, meine Liebe!« Und während sie sich unruhig und verstört von einer Seite auf die andere wälzte, erschien Alex und beruhigte sie: »Hab keine Angst, bei der Witwe bist du sicher! Nach Beaver Creek verirrt sich dieser Angeber bestimmt nicht! Vertrau mir, Clarissa! Ich liebe dich und werde dich bis an mein Lebensende lieben!«
Vom Gegröle der Holzfäller, die nach Feierabend in die Stadt gekommen waren und in kleinen Gruppen zum Saloon zogen, wachte sie auf. Erstaunt stellte sie fest, dass es schon dunkel war. Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen und stand auf, trat ans Fenster und blickte staunend auf die einzige Straße von Beaver Creek hinab. Aus dem verlassenen Nest, das sie am frühen Morgen kennengelernt hatte, war eine lebendige Stadt geworden. Im Schein zahlreicher Laternen waren vor allem die Holzfäller unterwegs, um ihr schwer verdientes Geld wieder unter die Leute zu bringen. Vor dem Bird Cage, in dessen verhängten Fenstern rote Laternen leuchteten, standen zwei leichte Mädchen in dicke Pelzmäntel gehüllt und lockten die Männer an, vom Saloon drang das schräge Klimpern eines Walzenklaviers herüber. Wie in den Buffalo-Bill-Geschichten, die sie in Alex’ Hütte gelesen hatte, dachte Clarissa.
Auch weil ihr einfiel, dass die Witwe Barnes gerade an einem solchen Abend eine zusätzliche Bedienung in ihrem Lumberjack Café gebrauchen konnte und vielleicht sogar Alex vorbeikam, zündete sie die Öllampe auf dem Nachttisch an und schlüpfte in ihren neuen Rock und die Bluse. Auch diese Kleidungsstücke passten wie angegossen. Sie wusch sich das Gesicht, kämmte ihre Haare und band sie im Nacken zu einem lockeren Knoten, tupfte sich etwas von dem Rosenwasser, das die Indianerin neben der Wanne stehen gelassen
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