Christopher Ross, Clarissa – Im Herzen die Wildnis
etwa die Polizei nach Ihnen?«
Clarissa überlegte eine Weile, trank hin und wieder einen Schluck Tee, nur um Zeit zu gewinnen, und erkannte schließlich, dass man der Witwe Barnes nichts verheimlichen konnte. »Ich heiße nicht Clara Holland. Mein Name ist Clarissa Howe.«
»Ein schöner Name.«
Und dann erzählte sie ihr alles, von Frank Whittler und seinen beiden Versuchen, sie zu vergewaltigen, von seinem Versuch, ihr einen Diebstahl anzuhängen und sie von der Polizei verfolgen zu lassen, von ihrer Flucht mit der Eisenbahn, dem unfreiwilligen Halt in der Wildnis und ihrer Flucht nach Norden, von ihrer Begegnung mit Alex und ihrer Fahrt nach Beaver Creek.
Nur Bones, den magischen Wolf, erwähnte sie nicht.
Die Witwe Barnes hörte geduldig zu und ließ ihre Worte lange auf sich wirken. Nachdenklich trank sie einen Schluck Tee. Sie blickte in ihre Tasse, als gäbe es dort etwas Wichtiges zu entdecken, und sagte: »Frank Whittler … Den Namen kenne ich. Hat der nicht was mit der Canadian Pacific zu tun?«
»Sein Vater ist ein hohes Tier bei der Eisenbahn«, antwortete Clarissa. »Er hat zwar keinen Abschluss, aber was macht das schon bei so einem Vater? Der Familie gehört halb Kanada. Wenn die Whittlers wollen, dass man eine unschuldige Frau wie mich ins Gefängnis sperrt, dann schaffen sie das auch.« Sie seufzte. »Es sei denn, ich kann mich hier verstecken und darauf warten, dass Gras über die Sache wächst. Im Frühjahr will ich über die Grenze in die Vereinigten Staaten … Ein neues Leben anfangen. Wahrscheinlich allein.«
Die Witwe beugte sich zu ihr hinüber und schloss sie in die Arme. »Jetzt wird mir manches klar, Schätzchen! Keine Angst, ich verrate Sie nicht. Bei mir sind Sie sicher. In unser Nest hat sich noch niemand verirrt, der etwas auf sich hält, und die Polizei schon gar nicht. Selbst die North West Mounted Police glaubt, dass Beaver Creek keinen Umweg wert ist. Sie haben wohl Angst vor den Holzfällern, die halten zusammen wie Pech und Schwefel, und die meisten wissen auch, sich zu benehmen … Außer es ist Freitag, und sie versaufen ihren Lohn im Saloon unten. Heute Abend ist es wieder so weit.« Sie löste sich von ihr und leerte seufzend ihren Tee. »Aber jetzt sollten Sie erst mal ein anständiges Bad nehmen und sich ein wenig hübsch machen. In den Klamotten würde Sie ja nicht mal ein greiser Indianer für eine Frau halten. Und dann schlafen Sie sich mal richtig aus. Sie sind doch sicher hundemüde, oder?«
»Ein heißes Bad?« Ihre Augen leuchteten erfreut. »Das hatte ich schon eine ganze Weile nicht mehr. Sie sind sehr freundlich zu mir, Witwe Barnes.«
Die Witwe rief nach einer ihrer Angestellten, einer jungen Indianerin, die von ihrem Stamm verstoßen worden war, weil sie Ehebruch begangen hatte, und zeigte Clarissa ihr Zimmer. »Ich lege Ihnen einen Rock, eine Bluse und frische Unterwäsche raus. Ich hab einige Kleider von früher aufgehoben, in der Hoffnung, dass ich mal wieder hineinpassen würde. Leider wird das nie der Fall sein, also überlasse ich sie lieber Ihnen. Ich hoffe, sie passen Ihnen.«
Das heiße Bad war die reinste Wohltat. Die Indianerin hatte reichlich Rosenwasser dazugegeben, und Clarissa glaubte sich in einem blühenden Garten. Nach dem Gespräch mit der Witwe Barnes fühlte sie sich schon wesentlich besser. Ihr konnte man vertrauen, das hatte sie schon beim ersten Blickkontakt gespürt, und sie besaß inzwischen die nötige Erfahrung und lebte schon lange genug in der Wildnis, um Männer wie Alex Carmack richtig einzuschätzen. Sie hatte einen teuren Preis dafür bezahlt, hatte sich nach der Flucht ihres Ex-Mannes eine neue Existenz aufbauen müssen, allein in dieser Wildnis, in einer Welt, die eigentlich harten Männern vorbehalten war.
Als Außenstehende hatte sie natürlich gut reden. Da war es leicht, einer jungen Frau wie ihr zu raten, erst einmal durchzuatmen und vielleicht sogar für einige Zeit getrennt zu bleiben, um herauszufinden, ob es sich tatsächlich um wahre Liebe handelte oder sie in ihrer Einsamkeit nur alles durch eine rosarote Brille gesehen hatten. Was wusste sie von der unstillbaren Sehnsucht und dem bitteren Schmerz, den sie erleiden musste, solange sie Alex nicht sah? Der Ungewissheit, dass er es tatsächlich nicht ernst gemeint haben könnte und schon morgen oder übermorgen bei einem leichten Mädchen unterkroch.
Sei nicht albern, wies sie sich zurecht. Du bist kein unbedarftes Schulmädchen mehr, das sich in den
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