Christopher Ross, Clarissa – Im Herzen die Wildnis
zwei weiteren Hühnerpasteten, einer Tafel Schokolade und einer Kanne Kaffee zu. »Ich dachte mir, Alex könnte noch eine kleine Stärkung gebrauchen. Die zweite Pastete ist für das Riesenbaby, mit dem er sich geprügelt hat. Der hat so ein Festessen genauso wenig verdient wie er, aber ich hab nun mal ein weiches Herz … Und Sie auch, wie ich inzwischen bemerkt habe. Gehen Sie!«
Clarissa bedankte sich und lief zum zweiten Mal an diesem Tag zum Gefängnis. Es schneite immer noch, und in einigen Häusern brannte bereits Licht. Der Hund, der ihr auf dem Rückweg aus dem Weg gegangen war, wagte sich wieder aus seinem Versteck hervor und bellte lautstark, sonst war niemand auf der Straße. Die Hammerschläge in der Schmiede waren verstummt, und auch Ben Cook hatte sein Büro bereits geschlossen und sich wohl in seine Wohnung im ersten Stock zurückgezogen. Er wohnte allein.
C. W. hatte sie bereits erwartet und griff spöttisch lächelnd nach dem Schlüsselbund, als sie den Raum betrat. »So gut möchte ich es auch mal haben«, sagte er. »Seitdem Sie hier sind, leben meine Gefangenen wie Könige.«
»Nur bis morgen früh. Sie werden doch morgen früh entlassen?«
»Alles nach Vorschrift, Miss Holland.«
Er führte sie zu der Zelle und ließ sie ein. Alex saß auf seiner Pritsche und starrte ins Leere, und auch Colby war inzwischen von seinem Rausch erwacht, saß ebenfalls auf seiner Pritsche und stützte den Kopf in beide Hände.
»War nicht so gemeint, Miss«, sagte er, als sie ihm eine Hühnerpastete reichte. »Ich meine … das, was ich gestern zu Ihnen gesagt habe. Manchmal geht es mit mir durch, wissen Sie, und dann muss ich so was sagen. Tut mir leid, Miss … Und danke für die Hühnerpastete, die schmeckt bestimmt lecker.«
Clarissa und Alex unterhielten sich flüsternd.
Als sie ihm verriet, was sie von Ben Cook erfahren hatte, schüttelte er ungläubig den Kopf und sagte: »Das glaube ich nicht. Warum sollte sich die Canadian Pacific mit einem solchen Nest belasten? Selbst wenn die Hauptstrecke fertig ist und sie nach neuen Einnahmequellen suchen … Da gäbe es doch ganz andere Möglichkeiten. Williams Lake, Barkerville, Kamloops …«
»Hier gibt es Holz, Alex, und wahrscheinlich sind die Grundstücke hier noch spottbillig. Ich hab lange genug bei den Whittlers gearbeitet, die fassen nichts an, was nicht die Aussicht auf baldigen Gewinn verspricht. Und wenn es stimmt, dass Frank Whittler tatsächlich … Oh Alex, ich hab solche Angst.«
»Frank Whittler in Beaver Creek? Der war doch erst in Ashcroft!«
»Und wenn ihm sein Vater ein Telegramm geschickt und ihm den Auftrag gegeben hat, mit Cook zu sprechen? Vielleicht auch nur, um ihn davon abzubringen, nach mir zu suchen, damit die Sache nicht noch mehr Wellen schlägt und der Canadian Pacific schlechte Publicity bringt. Wäre schon komisch, wenn ihn das Schicksal auf diese Weise ausgerechnet hierher verschlüge.«
»Du machst dir zu viele Sorgen … Er kommt bestimmt nicht.«
»Du meinst, wir müssen hier nicht weg?«
Alex legte ihr einen Arm um die Schultern. »Sobald ich hier raus bin, suche ich die Umgebung nach ihm ab. Wenn er in der Nähe ist, finde ich ihn, das kann ich dir versprechen. Ich will nicht, dass du plötzlich hinter Gittern sitzt und ich dir Hühnerpastete und Schokolade bringen muss.« Er grinste.
»Vor allem nicht, wenn ich ein paar Jahre sitzen muss.«
»Dazu wird es nicht kommen, Lady.«
Sie küssten sich lange und innig, auch wenn Colby den Kopf hob und ihnen grinsend dabei zusah. Clarissa versprach noch einmal, ihn pünktlich um zehn Uhr am nächsten Morgen abzuholen. Etwas zuversichtlicher kehrte sie ins Haus der Witwe zurück. Vielleicht hatten Alex und die Witwe ja recht, und sie machte sich tatsächlich unnötig Sorgen. Das wäre schon eine besondere Ironie des Schicksals, wenn Frank Whittler ausgerechnet hier auftauchen würde, dachte sie. So schlecht kann es der liebe Gott nicht mit mir meinen.
Die Arbeit während der Dinner-Zeit lenkte sie ab, und als sie danach mit der Witwe Tee trank, wie es wohl zur Gewohnheit zu werden schien, hatte sie Frank Whittler schon fast vergessen.
Umso bestürzter war sie, als sie um kurz nach elf auf ihr Zimmer kam, aus dem Fenster blickte und einen Hundeschlitten vor dem Gefängnis halten sah. Im trüben Licht der Laterne, und obwohl das Schneetreiben wieder stärker geworden war, erkannte sie einen hochgewachsenen Indianer auf dem Trittbrett. Auf der Ladefläche, in dicke
Weitere Kostenlose Bücher