Chronik der dunklen Wälder - Blutsbruder (German Edition)
Felswände, zerhackt und zerklüftet, als hätte eine gewaltige Axt hineingeschlagen. Das laut schnalzende Kollern einiger Auerhühner hörte sich an, als stürzten Steine zu Tal.
In der Abenddämmerung sprang Wolf in den Fluss, schwamm ans andere Ufer, kletterte heraus, schüttelte sich energisch und trabte weiter. Dann drehte er sich plötzlich um und schnupperte im Uferschlamm.
Sie paddelten vorsichtig ins Seichte, und Torak stieg aus, um zu sehen, was Wolf entdeckt hatte. Kein Wunder, dass er so verwirrt aussah: Aus den kreuz und quer durcheinanderlaufenden Fährten, in denen sich obendrein vor Kurzem ein Keiler gewälzt hatte, wurde man kaum schlau.
»Thiazzi war nicht allein hier«, stellte Torak fest. »Seht ihr diesen Fersenabdruck? Er ist nicht so tief und das Gewicht liegt eher auf der Innenseite des Fußes.«
»Das bedeutet, dass jemand bei ihm war?«, fragte Renn.
Torak knabberte nachdenklich an seinem Daumennagel. »Nein. Thiazzis Spuren sind dunkler, außerdem ist ein Käfer über die Spuren der anderen gelaufen, aber nicht über seine. Jemand war vor ihm hier.«
Wolf witterte etwas. Sie ließen die Kanus am Ufer zurück und folgten ihm zu einer schmalen Rinne, die sich ein Zufluss des Schwarzwassers geschaffen hatte.
Zwanzig Schritte bachaufwärts blieb Torak stehen.
Die Fußabdrücke schienen ihn aus dem Schlamm anzugrinsen. Selbstbewusst. Höhnisch. Hier bin ich. Thiazzi hatte sein Zeichen geradezu in den Boden gestampft.
»Der Eichenschamane«, sagte Fin-Kedinn.
Die Spuren verrieten Torak weit mehr als das. Ein einzelner Fußabdruck allein gleicht einer Landschaft, die dem erfahrenen Spurenleser eine ganze Geschichte erzählt. Torak war ein erfahrener Spurenleser. Vor dem Aufbruch von der Robbeninsel hatte er Thiazzis Spur so gründlich studiert, dass er sie bis in die letzte Einzelheit kannte.
Nun verriet ihm die Fährte in der schlammigen Rinne alle Geheimnisse. »Er hat seinen Einbaum am Ufer zurückgelassen«, sagte er schließlich, »und ist dann hier hochgeklettert. Er hat dabei etwas Schweres auf der linken Schulter getragen, vielleicht seine Axt. Dann ist er in seiner eigenen Spur wieder ans Ufer zurück und weitergepaddelt.« Torak biss die Zähne aufeinander. »Er ist satt und ausgeruht und kommt schnell voran. Er genießt es offenbar.«
»Aber warum hat er hier angehalten?«, fragte Renn und sah sich erstaunt um.
»Das gefällt mir nicht«, sagte Fin-Kedinn. »Denkt an diese heimtückische Sehne. Gehen wir lieber zu den Booten zurück.«
»Nein«, entgegnete Torak. »Erst muss ich wissen, was er hier wollte.«
Fin-Kedinn seufzte. »Geh nicht zu weit voraus.«
Sie pirschten vorsichtig weiter: Torak und Wolf zuerst, dann Renn, Fin-Kedinn am Schluss.
Die Bäume wuchsen bald spärlicher, und Torak musste sich zwischen mächtigen, kreuz und quer liegenden Findlingen hindurchzwängen, während Wolf leichtfüßig von Fels zu Fels setzte. Dann bog der Weg mit einem Mal scharf nach rechts ab. Hier wuchs kein einziger Baum mehr.
Torak stand auf einem riesigen, trostlos anmutenden Hügel aus nacktem Felsgestein. Dessen Kuppe lag etwa hundert Schritt höher und war mit schwarzen Rußflecken übersät, als hätte dort ein Feuer gebrannt. Hangabwärts lagen umgestürzte Bäume, die eine Flutwelle dort hingeschleudert haben mochte, und vereinzelte Findlinge ragten wie abgebrochene Zähne aus dem wüsten Durcheinander. Tief unten schlängelte sich das Schwarzwasser um den Fuß des Hügels und verschwand zwischen zwei steil aufragenden Felsblöcken, die sich in einem irrwitzigen Winkel einander zuneigten. Hinter diesem mächtigen steinernen Maul zeichneten sich die Eichen und struppigen Kiefern des Großen Waldes ab.
Wolf stellte die Ohren auf. Wuff!, bellte er leise.
Torak folgte seinem Blick. Unter den biegsamen Weidenzweigen am Ufer blitzte ein Paddel auf.
Wolf schnellte den Hang hinunter, und Torak, der ihm hinterherrannte, wäre beinahe gestürzt, als ein Baumstamm unter seinem Fuß nachgab.
»Torak!«, rief Renn leise.
»Nicht so schnell!«, mahnte Fin-Kedinn.
Aber Torak hörte nicht auf die beiden. Seine Beute durfte ihm auf keinen Fall entkommen, koste es, was es wolle.
Plötzlich sah er ihn, keine fünfzig Schritte entfernt. Der Eichenschamane paddelte mit langen, kraftvollen Schlägen auf den Großen Wald zu.
Die übereinanderliegenden Baumstämme boten Torak keinen festen Stand, doch obwohl er bedenklich schwankte, zog er einen Pfeil aus dem Köcher und legte ihn in
Weitere Kostenlose Bücher