Chronik der dunklen Wälder - Blutsbruder (German Edition)
Walderdbeeren. Wenn sie bei ihm gewesen wäre, hätte sie ein paar Wurzeln ausgegraben und sie zerkaut, um sich die Zähne zu reinigen. Als er im flachen Wasser nach Schilfstängeln suchte, um sie roh zu essen, fiel ihm ein Tag im vergangenen Sommer ein, als sie versucht hatte, Wolf mit einem solchen Stängel zu füttern, bis sie sich schließlich ausgelassen gejagt hatten. Am Schluss hatten sie alle drei im Wasser gelegen, Torak und Renn hilflos vor Lachen, während Wolf zwischen ihnen hin und her geplanscht war, an seiner Beute herumzerrte und spielerisch knurrte, als wäre sie ein Lemming.
»Ist gut jetzt!«, sagte Torak.
Auf der gegenüberliegenden Uferböschung hob ein Otterweibchen den schmalen Kopf und sah zu ihm herüber. Dann kaute es weiter an der Forelle, die es in den Vorderpfoten hielt.
Rek kam herabgeflogen, packte den Schwanz des Otters mit dem Schnabel und zog daran. Das wütende Otterweibchen drehte sich um und fauchte den frechen Eindringling an, derweil kam Rip angesegelt und riss ihr den Fisch aus den Pfoten.
Beide Raben ließen sich unweit von Torak nieder und zerlegten den Fisch. Ja, sie teilten ihn so untereinander auf, dass Torak unweigerlich denken musste, wie er und Renn auch stets alles teilten. Er schlug mit der Faust auf den Boden.
Als von der Forelle nur noch Gräten übrig waren, flog Rek auf Toraks Schulter und zupfte ihn vorsichtig am Ohr. Rip kam angewatschelt und beäugte den Medizinbeutel an seinem Gürtel: den Schwanenfußbeutel, der einmal Renn gehört hatte, bis sie ihn Torak im vergangenen Frühling geschenkt hatte.
»Nicht ihr auch noch«, sagte Torak gereizt zu den Raben.
Rip wackelte mit den Schwanzfedern und starrte den Beutel an.
Ohne zu wissen, warum, machte Torak ihn auf und nahm sein Medizinhorn heraus. Beide Raben legten die Köpfe schief, als hörten sie aufmerksam zu.
Mürrisch drehte Torak das Horn zwischen den Fingern. Es war mit spitzen Schnitzereien versehen, die wie Rottannen aussahen. Fin-Kedinn hatte Torak einmal gesagt, dass dies das Zeichen seiner Mutter für den Wald gewesen sei, wodurch er das Horn als das ihre erkannt hatte. Jetzt sah Torak, was er vergessen hatte. Um die Spitze des Horns war eine Strähne von Renns Haar gewickelt, die er damals, als er ausgestoßen gewesen war, in ihrem Schlafsack gefunden hatte.
Langsam löste er sie. Rip hüpfte auf sein Knie, nahm die Haare in den Schnabel und zog sie so vorsichtig hindurch, als putzte er eine Feder.
Ein tiefer Seufzer entrang sich Toraks Brust. Renn hatte ihm die Raben im vergangenen Sommer geschickt, als seine Seelen krank waren. Und jetzt hatte er sie im Stich gelassen.
So wie er auch Bale im Stich gelassen hatte.
Bei dem Gedanken wurde ihm kalt. Es geschah schon wieder. Er hatte sich mit Bale gestritten, dann war Bale gestorben. Und jetzt Renn …
Seine Faust schloss sich fest um die Strähne. Er würde umkehren und sie suchen. Er wollte sie dazu überreden, mit ihm zu kommen. Seine Rache konnte ebenso gut noch ein bisschen länger warten.
Schon sprang er in den Einbaum, drehte ihn um und paddelte flussabwärts.
Dieses Mal begleiteten ihn die Raben.
Nun war Wolf nicht nur verwirrt, sondern besorgt. Was machte Groß Schwanzlos bloß?
Seitdem das Helle Tier den Wald aufgefressen hatte, war Wolf ihm gefolgt, hatte ihn aber nicht verstanden. Er war um die großen Lager der Schwanzlosen geschlichen und hatte gesehen, wie sie einander angeknurrt und dann die Hautstreifen von ihren Köpfen gerissen hatten. Dann hatten sie seinen Rudelgefährten herbeigeschleppt, und beinahe wäre ihm Wolf zu Hilfe geeilt, aber dann hatte Groß Schwanzlos sie angeknurrt. Dieser schreckliche, knurrende Blutdurst … Es war Nicht-Wolf. Wolf verstand es nicht. Es machte ihm Angst.
Dann war er Groß Schwanzlos und der Rudelgefährtin zum Flinken Nass gefolgt, wo sie einander angeknurrt hatten, und dann – hatte Groß Schwanzlos sie verlassen. Ein Wolf verlässt niemals seine Rudelgefährtin. War Groß Schwanzlos krank? War sein Verstand getrübt?
Danach hatte sich Wolf immer in der Dunkelheit gehalten, war seinem Rudelgefährten aber am Nass entlang gefolgt. Groß Schwanzlos hatte nach ihm gerufen, aber Wolf war nicht zu ihm gegangen. Wolf hasste es, sich vor seinem Rudelgefährten zu verstecken, aber er wusste mit der Gewissheit, die ihn manchmal überkam, dass er nicht zu ihm durfte.
Warum nicht? Das wiederum wusste er nicht.
Kapitel 30
In den Bergen musste es gewittert haben, denn das
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