Chronik der dunklen Wälder - Schamanenfluch: Band 4 (German Edition)
7
Der Vollmond stand hoch am tiefblauen Himmel, aber Torak war immer noch mit den Vorbereitungen beschäftigt. Er hatte das Sammeln der Ebereschenzweige so lange wie möglich hinausgezögert und fürchtete den Augenblick, in dem er mit der Zeremonie beginnen musste.
Er hatte sich einen halben Mond verborgen gehalten, von Renns Vorräten gezehrt und von allen Hasen, Eichhörnchen und Vögeln, die er erwischen konnte. Ein Tag war so gleichförmig verstrichen wie der andere: auf der Suche nach Nahrung durchs Unterholz kriechen, sich im Dickicht verstecken, murmelnd Selbstgespräche führen, um wenigstens den Klang einer menschlichen Stimme zu vernehmen.
Aki und seine Hunde waren nicht wieder aufgetaucht. Die Clans waren emsig damit beschäftigt, Lachse zu stechen, und der Anführer der Eber hatte seinen Sohn bei der Arbeit hart rangenommen.
»Such dir einen Ort, der Macht ausstrahlt«, hatte Renn gesagt, als sie nebeneinander im Weidengestrüpp gekauert hatten. »Dort musst du es tun.«
Torak hatte eine solche Stelle gefunden, aber wahrscheinlich hatte Renn sich etwas anderes vorgestellt. Er stand an der Südseite eines tiefen Tals, das die Clans die Zwillingsflüsse nannten. Axtknauffluss und Grünwasser vermischten hier unter erzürntem Brausen und Fauchen ihre Läufe und vereinten sich zum Weißwasser. Ein trostloser Fleck, in ewige Gischt getaucht, wo Birke und Eberesche, ums nackte Leben kämpfend, ihre Wurzeln an übereinandergerutschte Findlinge klammerten.
Obendrein gefährlich nahe bei den Menschen. Von hier aus toste der Weißwasserfluss röhrend bis zur Küste und mündete, weniger als einen halben Tagesmarsch entfernt, an jener Stelle, wo das Sippentreffen abgehalten werden sollte. Torak war den anderen viel zu nahe – doch genau das war sein Plan. Hier würde niemand nach ihm suchen, und das Röhren der Wasserfälle würde seine Schreie übertönen, wenn die Schmerzen unerträglich wurden.
Er schob den Gedanken an Schmerzen entschieden beiseite, schnitt einen weiteren Ebereschenzweig und wünschte sich zum hundertsten Mal, er hätte eine Axt.
Hinter ihm knackte ein Ast.
Er wirbelte herum.
Eine schemenhafte Gestalt löste sich aus dem Schatten zwischen den Bäumen.
Er taumelte zurück.
Der Schatten prallte gegen ihn – und Elch und Junge sprangen mit verdutztem Brüllen auseinander.
»Du schon wieder!«, rief Torak erbost. »Verschwinde endlich ! Ich hab dir doch gesagt, dass ich nicht deine Mutter bin.«
Der Elch senkte den Kopf und beschnüffelte ihn. Torak spürte die heißen, pelzigen Knubbel, aus denen später das Geweih wachsen würde. Trotz seiner Größe bewegte sich der junge Elch schüchtern und unterwürfig, als wolle er sich dafür entschuldigen, dass er so groß geraten war. Toraks Blick fiel auf die Wunde an der Flanke des Tieres, die ihm die Mutter mit einem Tritt beigebracht hatte, und leises Mitgefühl stieg in ihm auf.
Der Elch begriff nicht, warum ihn die Mutter verstoßen hatte, wusste nicht einmal, dass er vor Wolf hätte Angst haben sollen, der ihn nur deswegen ihn Ruhe ließ, weil er satt war. Der junge Elch war bereits zweimal auf Torak zugestolpert und zweimal hatte er ihn weggejagt. Er konnte das Tier nicht erlegen, denn das Zerlegen des Kalbes würde tagelang dauern, und der Elch durfte ihm auch nicht folgen, weil er dann niemals lernen würde, vor Jägern auf der Hut zu sein. Inzwischen schien der Elch der Meinung zu sein, dass sie Freunde waren.
»Weg mit dir! Schsch!«, rief Torak und wedelte mit den Armen.
Der Elch blickte ihn aus seinen braunen Augen verwirrt an.
»Geh weg!«, wiederholte Torak und versetzte ihm einen Nasenstüber.
Der Elch machte kehrt und trottete zwischen den Bäumen davon. Kaum war Torak allein, wurde ihm wieder bang ums Herz. Nun stand nichts mehr zwischen ihm und der Zeremonie.
Bei dem Gedanken, sich die Tätowierung herausschneiden zu müssen, drehte sich ihm der Magen um, aber die Vorstellung, was aus ihm werden würde, wenn er es unterließ, war noch schrecklicher.
Er hatte sich eine Stelle ausgesucht, die ungefähr zwanzig Schritte über dem Fluss lag: auf einem großen buckligen Findling, der von Ebereschen schützend umstanden war. Das Mondlicht schimmerte schwach auf dem Stein. Torak hätte tiefe Dunkelheit diesem geisterhaften Zwielicht vorgezogen, doch im Sommer schlief die Sonne nie lange.
Er ließ Schlafsack, Köcher und Bogen am Fuß des Felsens zurück und machte sich an den Aufstieg. Moosbrocken lösten sich unter
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