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Chronik der dunklen Wälder - Schamanenfluch: Band 4 (German Edition)

Chronik der dunklen Wälder - Schamanenfluch: Band 4 (German Edition)

Titel: Chronik der dunklen Wälder - Schamanenfluch: Band 4 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Paver
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solches Geheimnis mit sich zu tragen.« Bale schüttelte den Kopf. »Das war eine schreckliche Last.«
    Torak hob einen Stein auf und schleuderte ihn auf einen Baumstamm. Er verfehlte ihn. Die Raben hoben die Köpfe und warfen ihm vorwurfsvolle Blicke zu.
    »Aber«, fuhr Bale erbarmungslos fort, »sie ist auch sehr stark. Und mutig dazu.«
    Torak fuhr herum und sah ihn an. »Na schön! Du hast gesagt, was du sagen wolltest, und jetzt lass mich in Frieden!« Er kramte seine Sachen zusammen, ging ein paar Schritte weiter und warf sich dann, Bale den Rücken zugekehrt, auf den Boden.
    Klugerweise ließ ihn der Robbenbursche jetzt in Ruhe.
    Torak hatte keinen Hunger, und obwohl er erschöpft war, wusste er, dass er kaum schlafen würde. Zu allem Überfluss gebärdeten sich Rip und Rek wie die reinsten Nervensägen. Rek flatterte dauernd mit den Flügeln und tat so, als sei sie noch nicht flügge und müsse dringend gefüttert werden, und Rip pickte an Toraks Messergriff herum.
    »Hör auf damit«, sagte ihm Torak. Natürlich brachte das überhaupt nichts.
    Er warf Rip ein Stück Fleisch zu. Der Rabe ignorierte es jedoch und machte sich schon wieder am Messer zu schaffen.
    »Aufhören!«, flüsterte Torak heiser.
    »Was ist denn?«, rief Bale leise.
    Torak antwortete ihm nicht.
    Rip starrte ihn an: Er bettelte nicht um Futter, sondern starrte ihn nur an. Seine Augen waren schwarz wie der Ursprung und seine Rabenseelen streckten sich nach Toraks Seelen aus.
    Torak sah von Rip zu dem mit Elchsehnen umwickelten Heft des Messers und dann wieder zu Rip. Er drehte den Kopf und blickte zu Bale hinüber. Er versuchte etwas zu sagen, brachte aber keinen Ton heraus.
    Der Robbenjunge sah seinen Gesichtsausdruck und kam auf ihn zu.
    Immer noch wortlos, zog Torak das Messer aus der Scheide und zupfte fieberhaft an der Bindung. Sie war sehr fest – Fa hatte die Sehnen in dem Sommer, in dem er getötet worden war, erneuert –, sodass nicht einmal Rabenschnäbel ihr viel anhaben konnten.
    Ohne nach einer Erklärung zu fragen, reichte ihm Bale sein eigenes Messer. »Schneide sie durch«, sagte er.
    Sobald die Sehnen durchtrennt waren, ließen sie sich einfacher herauspulen. Toraks Herz raste, als er die letzte Schicht löste.
    Die Bäume wurden ganz still.
    Der See hielt den Atem an.
    Der Schweiß lief in Strömen an Torak herunter, als er das, was so viele Sommer lang im Griff von seines Vaters Messer verborgen gewesen war, erblickte. Er hielt das Messer schräg, und es fiel heraus in seine Handfläche, aus dem Hohlraum, den Fa eigens dafür aus dem Griff herausgeschnitten hatte. Während Torak noch darauf starrte – auf diesen Gegenstand, der nicht größer als ein Rotkehlchenei war, aber über die Macht verfügte, die Dämonen aus der Anderwelt zu knechten –, erhob sich die Sonne über den Eisfluss, und ein greller Lichtstrahl bohrte sich tief in das kalte rote Herz des Feueropals.
    Bale zog zischend den Atem ein. »Die ganze Zeit über …«
    Torak erwiderte nichts. Er war wieder zwölf Sommer alt und kniete neben Fa.
    »Ich sterbe, Torak«, keuchte Fa. »Bis die Sonne aufgeht, bin ich tot.«
    Torak sah, wie die Schmerzen das hagere braune Gesicht seines Vaters verzerrten. Er sah die winzigen roten Adern in den hellgrauen Augen, und in ihre Mitte, die bodenlose Dunkelheit.
    »Tausch … mit mir das Messer«, sagte Fa.
    Torak war entsetzt. »Ich will dein Messer nicht! Du brauchst es doch noch!«
    »Du brauchst es nötiger.«
    Torak wollte nicht mit seinem Vater Messer tauschen. Das hatte so etwas Endgültiges. Aber der Vater sah ihn mit einem Blick an, der keinen Widerspruch duldete …
    »Ach, Fa«, flüsterte Torak. Er spürte den Feueropal mit schneidender Kälte in der Handfläche brennen. Er schaute in sein feuriges pulsierendes Herz.
    Bales braune Hand legte sich über den Stein und der Zauber verflog. »Torak! Deck ihn zu!«
    Torak blinzelte.
    »Sie sieht ihn sonst!«, zischte Bale. » Decke ihn zu! «
    Aus seiner Benommenheit erwacht, ließ Torak den Feueropal wieder in sein Nest gleiten und wickelte sein Stirnband so fest um den Griff, dass der Stein nicht herausrutschen konnte. Erst als er sicher verstaut war, atmeten die beiden wieder auf.
    Schließlich sagte Bale: »Wie sollen wir ihn zerstören?«
    Torak runzelte die Stirn. Wie konnte Bale bloß daran denken, etwas so Wunderschönes zu zerstören?
    »Torak! Wie?«
    Natürlich hatte Bale recht. »Man muss ihn vergraben«, sagte Torak mit gebrochener Stimme.

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