Chronik der dunklen Wälder - Schamanenfluch: Band 4 (German Edition)
Schnauze in die Luft, konnte aber keine Witterung von Groß Schwanzlos aufnehmen. Sein Plan, den Rudelgefährten wiederzufinden, funktionierte nicht.
Renn hatte nicht mehr geweint, seit ihr Vater gestorben war. Jetzt kam sie sich leer und zerbrechlich wie eine Eierschale vor.
Wolf hatte ihr sehr geholfen. Er war so unvermittelt verschwunden, wie er aufgetaucht war, aber noch immer roch sie seinen kräftigen süßen Wolfsgeruch in ihren Kleidern und auf ihrer Haut, und das war ungewöhnlich beruhigend. Solange sie Wolf hatte, war sie nicht völlig ohne Freunde.
Nachdem sie sich das Gesicht im See gewaschen hatte, überlegte sie, was sie als Nächstes tun sollte.
Torak wollte sie nicht mehr als Freund, aber vielleicht fand sie trotzdem eine Möglichkeit, ihm zu helfen. »Also denk nach«, sagte sie laut. »Was will die Natternschamanin?«
Sie wollte Torak und den Feueropal. Und sie hatte schon geglaubt, ihn zu haben, als die Raben kamen.
Der Gedanke daran munterte Renn auf. Also hatte ihre Schamanenkunst doch gewirkt. Sie war diejenige, die die Raben ausgesandt hatte.
Sie ging langsam über die Strandkiesel. Die Nacht war warm und stickig, ein Ring um den Mond verriet ihr, dass der Weltgeist nicht im Reinen mit sich war. Ein Sturm braute sich zusammen. Vorerst jedoch war der See noch ruhig, bis auf ein, zwei Tauchvögel, die dicht über das Wasser glitten. Gedankenverloren sah sie ihnen nach.
Plötzlich flogen sie einen Bogen und hielten direkt auf sie zu.
Erschrocken duckte sie sich.
Sie sausten über sie hinweg, so dicht, dass sie das Flüstern ihrer Flügel hörte und ein scharlachrotes Auge aufblitzen sah. Mit schrillem Kreischen drehten sie ab und verschwanden im Schilf.
Renn blieb auf den Kieseln hocken. Auch das war ein Zeichen gewesen, dessen war sie sicher. Zwei Rehkitze. Ein zweiköpfiger Fisch. Die Otterzwillinge. Zwei Vögel. Alles in Paaren. Die Geister versuchten ihr schon seit geraumer Zeit etwas mitzuteilen. Wenn sie die Bilder doch nur enträtseln könnte.
Langsam erhob sie sich.
Um die Zeichen zu lesen, musste sie ihren Geist ohne Vorbehalte öffnen. Ganz gleich um welchen Preis.
Der Mond war über den Himmel geflohen und Renn saß immer noch da, mahlte den weißen Kieselstein auf dem schwarzen, so wie es Saeunn sie gelehrt hatte. Die ganze Nacht lang war sie vor- und zurückgeschaukelt, hatte Kiesel aufeinandergerieben und sich immer tiefer in Trance begeben.
Der Wacholderrauch hatte sie schwindlig gemacht, sie hielt die Augen fest geschlossen vor dem beißenden Geruch des Erlensaftes. All das gehörte dazu. Sie musste sich von der Welt um sie herum entfernen, um mit ihrem inneren Auge zu sehen. Sie musste ihren Geist leeren, damit eine Antwort kam.
Ihre Muskeln taten weh. Das Mahlen von Stein auf Stein erfüllte ihre Gedanken, zog sie tiefer in die Dunkelheit.
»Geister des Sees und der Berge«, hauchte sie, »Geister des Waldes und des Eises, ich bitte euch um Geleit. Ihr habt mir Zeichen gesandt, wofür ich euch danke. Helft mir jetzt, ihre Bedeutung zu erkennen.«
Plötzlich spürte sie einen starken Willen neben ihrem eigenen. Erschrocken hätte sie beinahe die Augen geöffnet.
Seshru.
Renn biss die Zähne aufeinander, mahlte weiter mit den Kieseln und zog sich hinter den Schutz des mahlenden Geräusches zurück.
Ich sehe dich … Seshrus Geist griff nach dem ihren. Ich kenne die Grenzen deiner Macht.
Der Kiesel in ihrer Hand war schwer wie ein Findling; sie konnte ihn kaum mehr anheben. Renn zwang sich zum Weitermachen und schloss die Natternschamanin aus ihren Gedanken aus.
Ich bin das Schilf und der Sturm, der Donner und der Wind … Du kannst mich nicht überwinden …
Ihre Muskeln brannten, ihr Kopf fing an zu kreiseln. Sie spürte Seshrus Willen, der sie bestürmte: stärker als der Sturm, der die mächtigste Eiche fällt.
Das Mahlen der Steine wurde lauter. Aber jetzt klang es wie das Summen von Bienen, vielen Bienen, und sie trieb auf dem Geräusch dahin, hinunter in die Tiefe des Sees. Weit weg in der Welt dort oben, verhallte ein zorniger Schrei, während sie immer tiefer sank.
Als sie auf dem Grund des Sees hockte, fühlte sie, wie sein Schmerz durch sie hindurchfuhr, sein unvorstellbares Alter.
Nun schwebte sie über der Heilquelle und sah die Hände der Natternschamanin den geheiligten Lehm zusammenscharren.
Dann schaukelte sie am Rande des Eisflusses auf dem Wasser und legte den Kopf in den Nacken, um die in der Sonne glitzernde Eiswand zu
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