Chronik der dunklen Wälder - Seelenesser: Band 3 (German Edition)
Augen mit um den Kopf gebundenen Rindenbaststreifen. Ihnen war bewusst, dass sie das schon viel früher hätten tun sollen. Sie orientierten sich an der mittlerweile tief stehenden Sonne und brachen nach Norden auf.
Torak tat der Kopf weh und er taumelte vor Erschöpfung. Er hatte das unbestimmte Gefühl, dass sie das Verkehrte taten, dass sie vorher nicht richtig nachgedacht hatten, aber er war zu müde, um diese Überlegung weiterzuverfolgen.
Die weite Ebene machte hohen Höckern und schroffen Graten Platz. Hier und dort bildete der verwehte Schnee gefährliche Überhänge, die sich wie gewaltige erstarrte Wellen über den Wanderern auftürmten. Dazu blies der Wind unablässig von Norden – zornig, rachsüchtig, unversöhnlich.
Es wurde immer schwieriger, in der sich ständig wandelnden Landschaft Entfernungen abzuschätzen. Sie hatten den Eindruck, kaum vorangekommen zu sein, als Torak eine Anhöhe erklomm, sich umdrehte und feststellte, dass der Wald nicht mehr zu sehen war.
Eine wütende Windbö stieß ihn in den Rücken, sodass er umkippte und den ganzen Abhang hinunterrollte.
Renn kam hinterhergestapft. »Hättest den Sturz ja auch mit der Axt aufhalten können«, sagte sie mürrisch, als sie ihm aufhalf. Toraks Axt stak im Gürtel und er hatte sie nicht rechtzeitig herausziehen können.
Von da an trugen sie die Äxte in der Hand.
Sie waren schon beim Aufbruch müde gewesen, aber allmählich wurde jeder Schritt zur Qual. Der Durst meldete sich wieder, aber sie hatten kein Holz mehr zum Schneeschmelzen. Sie wussten, dass man keinen Schnee essen soll, taten es aber trotzdem. Das bescherte ihnen Blasen an den Lippen und Magenkrämpfe. Dazu blies der Wind unermüdlich, beschoss ihre Gesichter mit winzigen Eispfeilen, bis ihre Wangen wund waren und ihre Lippen bluteten.
Wir gehören nicht hierher, ging es Torak durch den Kopf. Alles ist verkehrt. Nichts ist, wie es sein soll.
Einmal hörten sie überraschend nah Moorhühner kollern, aber als sie sich umschauten, waren die Vögel verschwunden.
Dann glaubte Renn, einen Menschen zu sehen, aber als sie näher kamen, entpuppte er sich als aufgeschichteter Steinhaufen mit wehender Haarmähne und auf Armhöhe festgebundenen Fellstücken. Wer hatte ihn errichtet? Und wozu?
Die schweißfeuchten Wämser wärmten nicht mehr, die übrige Kleidung war eisverkrustet, steif und schwer. Ihre Gesichter brannten, dann wurden sie taub. Torak kamen die rätselhaften Worte des Streuners wieder in den Sinn: Erst ist einem kalt, dann wieder nicht . Wie ging es doch gleich weiter?
Renn zupfte ihn am Ärmel und zeigte zum Himmel.
Torak erschrak.
Im Norden brauten sich grauviolette Wolken zusammen.
»Ein Sturm!«, rief Renn. »Wir müssen aufpassen, dass wir zusammenbleiben!« Sie holte das zusammengerollte Lederseil aus ihrer Trage. Sie hatten schon einmal gemeinsam einen Schneesturm überstanden und wussten, wie leicht man einander aus dem Blick verlor.
»Wir müssen uns eingraben!«, brüllte Renn und mühte sich damit ab, sich das froststarre Seil umzubinden.
»Wo?« Torak band sich mit klammen Fingern das andere Ende um den Leib. Die Gegend war inzwischen wieder einigermaßen flach und eben.
»In den Boden!«, antwortete Renn. »Wir müssen uns eine Schneehöhle graben!« Sie stapfte auf und ab, suchte eine Stelle, wo der Schnee fest war – da brach der Boden plötzlich unter ihr ein, und sie war verschwunden.
»Renn!«, brüllte Torak.
Das Seil straffte sich mit einem Ruck. Torak stemmte sich dagegen und grub die Fersen in den Boden. Bei dem tobenden Schneetreiben konnte er nichts erkennen, aber Renns Gewicht zog ihn nach unten.
Verzweifelt kämpfte er dagegen an, rutschte aus, schlitterte ein Stück, fiel vornüber … und landete in einem Berg Schneetrümmer.
Der Berg regte sich. Es war Renn.
Beide setzten sich auf, ziemlich mitgenommen, aber unverletzt.
Torak legte den Kopf in den Nacken und stellte fest, dass sie durch ein überhängendes Schneedach gebrochen waren. Nichts ahnend waren sie schon geraume Zeit auf einer zerbrechlichen Eiskruste über einem Abgrund gegangen.
Was Renn betraf, war dieses Erlebnis der letzte Pfeil, der den Auerochsen in die Knie zwingt. »Ich kann nicht mehr!«, schrie sie und hieb mit den Fäusten auf den Schnee ein.
»Komm schon, wir müssen uns doch eingraben!«, rief Torak, aber ihm war selbst klar, dass es keinen Sinn hatte. Er hatte kaum noch genug Kraft, die Axt zu heben.
Sein Stolz bäumte sich ein letztes Mal
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