Chronik der dunklen Wälder - Seelenwanderer: Band 2 (German Edition)
staunte er auch.
Seine Begeisterung war nicht von langer Dauer. Die anderen Kinder spürten, dass er ein Außenseiter war, und rotteten sich gegen ihn zusammen.
Ein Mädchen vom Natternclan mit dicken Eichhörnchenbacken hatte ihn verhöhnt. »Dein Fa ist verrückt!«, sagte sie verächtlich. »Deswegen hat ihn seine Sippe verstoßen, weil ihm nämlich ein Geist seinen Atem eingeblasen hat!« Das hatten ein paar andere Kinder vom Weiden- und vom Lachsclan gehört. »Verrückt! Ihr seid verrückt!«, johlten sie. »Buntgesichter! Seelenlose!«
Torak war zu jung, um zu begreifen, dass er gegen so viele Gegner nicht ankommen konnte und zwangsläufig der Unterlegene wäre. Blinde Wut packte ihn. Er ließ seinen Vater von niemandem beleidigen!
Also griff er sich eine Hand voll Kiesel und wollte sie eben werfen, als Fa dazukam. Torak staunte nicht schlecht, dass ihm die kränkenden Bemerkungen der Kinder nichts auszumachen schienen. Lachend hob er seinen Sohn auf die Schultern und verließ den Lagerplatz.
Auch an seinem letzten Abend hatte er gelacht. Sie hatten im Wald ihr Lager aufgeschlagen und Torak hatte einen Scherz gemacht. Dann war der Bär aufgetaucht.
Neun Monde war es jetzt her, dass Fa getötet worden war, trotzdem kam es Torak noch ab und zu unwirklich vor, dass er für immer fort war. Manchmal wachte er morgens in seinem Schlafsack mit dem Gedanken auf, dass er Fa endlich alles erzählen musste, von Wolf, von Renn und Fin-Kedinn …
Dann traf es ihn wie ein Schlag in die Magengrube. Nie wieder würde er Fa irgendetwas erzählen.
Du sollst doch nicht daran denken!, rügte er sich.
Aber wie immer nützte es nicht viel.
Torak sah sich um. Er stand auf einem schmalen grauen Sandstreifen. Vor seinen Füßen häufte sich salzig-modrig stinkender violetter Tang. Zu seiner Linken lagen mächtige Felsbrocken verstreut wie die Splitter einer riesigen Feuersteinknolle, zu seiner Rechten strömte das Breitwasser ins glitzernde Meer.
Torak war ganz verzagt zumute. Alles war so fremd. Das Gekreisch der Möwen klang so anders als der melodische Gesang der Waldvögel. Im Sand waren unbekannte Spuren zu erkennen, eine breite, zu beiden Seiten von fünfzehigen, halbmondförmigen Abdrücken gesäumte Furche. Sie musste von einem großen, schweren Geschöpf stammen, das sich mühsam zum Wasser geschleppt hatte, aber Torak konnte nicht einmal sagen, ob es sich dabei um Beute oder Jäger handelte.
Als er auf einen Felsen kletterte, knirschten winzige weiße Schalen unter seinen Tritten. Sie ähnelten Schneckenhäusern, aber keinen, die er kannte, und auch die Pflanzen mit den fleischigen Blättern und den im Wind schwankenden gelben Blüten, die in den Felsspalten wuchsen, waren ihm unbekannt.
Ein schwarz-weißer Vogel, dessen Federkleid dem einer Elster ähnelte, der aber einen langen roten Schnabel hatte, hackte auf eine Schale ein, die am Stein festgewachsen schien. Mit einem energischen Hieb knackte er sie auf, verschlang den Inhalt und flog mit einem lauten Pfeifruf davon.
Torak blickte ihm nach. Dann ging er am Wasser in die Hocke, beugte sich vor und spähte in die fremde, stetig schwankende Welt hinab, wo goldbraune Wedel und fadendünnes Kraut wuchsen. Als er die Hand hineinsteckte, fühlten sich die Wedel schleimig wie feuchtes Leder an, das Kraut klebte ihm wie nasse Haarsträhnen an den Fingern. Ein Tier mit warzigem orangefarbenem Panzer floh vor seinem Schatten unter einen Stein.
Vom Salzgeruch bekam er Kopfschmerzen und vom gleißenden Funkeln des Wassers brannten ihm die Augen. Er verspürte den überwältigenden Drang, in den Wald zurückzulaufen, sich dort zu verkriechen und nie wieder hervorzukommen.
Aber da war ja noch die Krankheit. Wenn es ihm nicht gelang, einen Trank dagegen zu beschaffen …
Er verscheuchte die Fluchtgedanken und ging erst einmal etwas zu essen suchen.
Er wusste nicht, was hier am Meer alles essbar war, aber am Waldrand entdeckte er einen mit Gänsefuß bewachsenen Fleck und pflückte büschelweise saftige Blätter. Er sammelte Treibholz, machte Feuer und legte ein paar große Steine in die Glut. Dann füllte er sein Kochleder zur Hälfte mit Meerwasser, hängte es an ein aufrecht gestelltes Stück Treibholz und warf erst mit einem gegabelten Ast die glühenden Steine hinein, dann die Gänsefußblätter und zu guter Letzt die Reste eines Hasen, der ihm vergangene Nacht in die Schlinge gegangen war. Bald war der würzige, wenn auch reichlich salzige Eintopf gar.
Torak
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