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Chronik der dunklen Wälder - Wolfsbruder: Band 1 (German Edition)

Chronik der dunklen Wälder - Wolfsbruder: Band 1 (German Edition)

Titel: Chronik der dunklen Wälder - Wolfsbruder: Band 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Paver
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musste jetzt dafür büßen, und Wolf ebenfalls. Das erstickte Gejaule war verstummt. Bekam der Kleine nicht genug Luft? War er vielleicht schon erstickt?
    Torak bat Renn, den Sack zu öffnen und etwas Luft hineinzulassen.
    »Nicht nötig«, erwiderte sie, ohne sich umzudrehen. »Eben hat er noch gezappelt.«
    Torak biss die Zähne zusammen und stolperte weiter. Er musste fliehen, aber wie?
    Oslak lief hinter ihm, Hord ging voran. Er mochte neunzehn Sommer alt sein, ein kräftiger, gut aussehender junger Mann. Er wirkte zugleich hochmütig und unsicher, als wollte er um jeden Preis der Beste sein, befürchtete aber insgeheim, dass er immer nur der Zweitbeste bleiben würde. Seine Kleidung war sorgfältig gearbeitet und farbenfroh. Das Wams war mit rot gefärbten, geflochtenen Sehnen bestickt und mit grün gefleckter Vogelhaut eingefasst, auf seiner Brust hing eine wunderschöne Kette aus Hirschzähnen.
    Torak wunderte sich, dass sich ein Jäger so auffällig kleidete. Obendrein klirrte die Kette, was so ungefähr das Letzte war, was ein Jäger brauchen konnte.
    Renn und Hord sahen einander ähnlich, und Torak überlegte, ob sie Geschwister waren. Allerdings war Renn vier oder fünf Sommer jünger als Hord. Ihre Clantätowierung – drei schmale blauschwarze Streifen auf den Wangenknochen  – stach von ihrer hellen Haut ab und verlieh ihr ein verschlagenes, misstrauisches Aussehen. Torak glaubte nicht, dass es Zweck hatte, sie um Hilfe zu bitten.
    Ihr Beinleder und Wams waren abgewetzt, Bogen und Köcher jedoch ausgesprochen schön. Die Pfeile waren kunstvoll mit Eulenfedern besetzt, damit sie lautlos flogen. An den ersten beiden Fingern der linken Hand trug sie lederne Fingerlinge und um den rechten Arm hatte sie einen Unterarmschutz aus blank poliertem grünem Schiefer gebunden. Torak nahm an, dass so etwas nur jemand trug, der mit Leib und Seele Bogenschütze war. Der Bogen ist ihre wahre Leidenschaft, dachte er, nicht schöne Kleidung wie bei Hord.
    Aber welcher Sippe gehörte sie an? Alle drei trugen an der linken Schulter einen Streifen Haut von ihrem Totemtier, in diesem Fall ein Büschel schwarzer Federn. Vom Schwan? Vom Adler? Die Federn waren schon so zerrupft, dass Torak es nicht genau erkennen konnte.
    Sie liefen den ganzen Morgen, ohne einmal anzuhalten, um etwas zu essen oder zu trinken. Sie durchquerten sumpfige Täler voll wispernder Zitterpappeln und erklommen mit wachsamen Kiefern bestandene Hügel. Als Torak unter den Bäumen hindurchging, seufzten sie kummervoll, als betrauerten sie schon jetzt seinen Tod.
    Wolken schoben sich vor die Sonne und Torak verlor die Orientierung. Sie kamen an einen Abhang, wo hüfthohe Ameisenhügel aus dem Waldboden ragten. Da Waldameisen ihre Hügel nur an der Südseite von Bäumen errichten, kam Torak zu dem Schluss, dass sie nach Westen gingen.
    Irgendwann machten sie doch an einem kleinen Bach Halt, um ihren Durst zu stillen.
    »Wir kommen viel zu langsam voran«, schimpfte Hord. »Wir müssen noch das ganze Tal durchqueren, bis wir am Windfluss sind.«
    Torak spitzte die Ohren. Vielleicht konnte er ja etwas Nützliches aufschnappen…
    Renn merkte, dass er zuhörte. »Der Windfluss«, sagte sie überdeutlich, als spräche sie mit einem kleinen Kind, »liegt im nächsten Tal westlich von hier. Dort lagern wir im Herbst. Und ein paar Tagesmärsche nach Norden fließt das Breitwasser, wo wir uns im Sommer niederlassen. Wegen der Lachse. Das sind Fische. Vielleicht hast du schon mal davon gehört.«
    Torak spürte, wie er rot wurde. Immerhin wusste er jetzt, wo die drei hinwollten, nämlich in ihr Herbstlager. Das klang gar nicht gut. In einem Lager waren noch viel mehr Leute und eine Flucht war noch viel schwieriger zu bewerkstelligen.
    Die Sonne sank immer tiefer. Die drei Fremden wurden unruhig, blieben immer wieder stehen, sahen sich um und lauschten. Torak erriet, dass sie nach dem Bären Ausschau hielten. Vielleicht hatten sie sich ja seinetwegen dieses neue Gesetz ausgedacht, dass das Wild jemandem »gehörte«. Vielleicht gab es immer weniger Wild, weil der Bär es verjagte.
    Sie stiegen in ein weites, mit Eichen, Eschen und Kiefern bestandenes Tal hinab und kamen kurz darauf an einen breiten silbrigen Fluss. Das musste der Windfluss sein.
    Plötzlich roch Torak Rauch. Sie näherten sich dem Lager.

Kapitel 8

    SIE ÜBERQUERTEN den Fluss auf einem Holzsteg. Torak blickte ins Wasser und überlegte, ob er hineinspringen sollte. Aber da seine Hände gefesselt

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