Chronik der dunklen Wälder - Wolfsbruder: Band 1 (German Edition)
Streuner. »Otter haben ihn verlassen.« Er drehte der Taube einen Flügel ab, steckte ihn in den Mund und lutschte ihn aus, wobei er eine dicke Rotzschleife mit einsaugte.
Torak würgte, Renn wurde grün im Gesicht.
»Der Streuner hat Speerspitzen gemacht«, nuschelte der Mann, den Mund voller fauligem Brei, »und der Feuerstein ist ihm ins Gesicht gesprungen und hat ihn in den Kopf gebissen.« Er stieß ein bellendes Lachen aus und besprühte seine Zuhörer mit halb zerkauten Bröckchen. »Da ist was an ihm krank geworden, wurde genäht, ist aber wieder krank geworden. Am Ende ist sein Auge einfach rausgesprungen und ein Rabe hat’s gefressen. Ha! Raben fressen gern Augen!«
Dann verzog er das Gesicht und schlug sich mit der Faust vor den Kopf. »Ach, aber’s tut weh, so weh! Die vielen Stimmen, die in seinem Kopf heulen, die Seelen, die miteinander zanken! Deshalb haben ihn die Otter weggejagt!«
Renn schluckte. »Einer aus meiner Sippe hat auf die gleiche Weise ein Auge verloren. Meine Sippe ist mit den Ottern befreundet. Wir … wir wollen dir nichts Böses.«
»Kann sein«, schnaufte der Streuner, zog einen Knochen aus dem Mund und verstaute ihn sorgfältig unter seinem Umhang. »Aber sie tragen’s trotzdem herein.« Plötzlich verstummte er und ließ den Blick misstrauisch über die Hänge wandern. »Aber der Streuner hat’s vergessen… Narik wollte Haselnüsse! Wo sind bloß die ganzen Haselnussbäume geblieben?«
Torak drückte Wolf noch fester an sich. »Das Verderben, das wir angeblich in dein Tal tragen … Meinst du damit…«
»Sie wissen genau, was er meint«, entgegnete der Streuner. »Den Bärendämon, den Dämonenbären. Und der Streuner hat’s ihm noch gesagt , dass er ihn nicht beschwören soll!«
Torak blieb stehen. »Wem hat er das gesagt? Meinst du etwa… den verkrüppelten Wanderer? Der den Bären erschaffen hat?«
Ein Stoß mit dem Messer erinnerte ihn daran, dass er weitergehen sollte. »Der Krüppel, na klar! Der Weise, immer hinter den Dämonen her, damit sie alles machen, was er will.« Wieder lachte er bellend. »Aber der Wolfsjunge weiß nichts von Dämonen, oder? Weiß nicht mal, was Dämonen sind! Ja, ja, so was merkt der Streuner sofort.«
Renn sah Torak überrascht an. Er wich ihrem Blick aus.
»Der Streuner kennt sich damit aus«, fuhr der Mann fort und hielt dabei immer noch nach Nussbäumen Ausschau. »Klar doch. Bevor ihn der Feuerstein gebissen hat, war er selber ein weiser Mann. Er hat gewusst, wenn man stirbt und seine Namensseele verliert, wird man ein Geist und vergisst, wer man ist. Die Geister tun dem Streuner Leid. Aber wenn man seine Clanseele verliert… dann wird man selber ein Dämon.«
Er beugte sich vor und hüllte Torak in eine Wolke aus fauligem Atem. »Denk drüber nach, Wolfsjunge. Ohne Clanseele bist du ein Dämon. Die ungezähmte Kraft der Nanuak, von keinem Clangefühl gebändigt, verwandelt sich in flammenden Zorn, weil dir etwas genommen wurde. Deshalb hassen sie alles Lebendige.«
Torak wusste, dass der Streuner die Wahrheit sagte. Er hatte diesen Hass selbst erlebt. Dieser Hass hatte seinen Vater umgebracht. »Was wurde aus dem Krüppel?«, fragte er heiser. »Aus dem, der den Dämon eingefangen und in den Bären gebannt hat? Wie lautete sein Name?«
»Ja, ja«, brabbelte der Streuner und bedeutete Torak weiterzugehen. »So klug, so weise. Erst verlangt es ihn nur nach den kleinen Dämonen, den Schleichern und Kriechern. Aber die sind ihm nicht mächtig genug, er will immer noch mehr. Drum beschwört er die Beißer und Jäger. Aber er ist immer noch nicht zufrieden.« Er lachte und wieder schlug sein Aasatem über Torak zusammen. »Und dann«, raunte er, »ruft er… einen Urgewaltigen an.«
Renn schnappte nach Luft.
Torak war verwirrt. »Was ist das denn?«
Der Streuner kicherte. »Aah, sie weiß es! Das Rabenmädchen weiß es!«
Renn suchte Toraks Blick. Ihre Augen waren sehr dunkel. »Je stärker die Seelen, desto stärker der Dämon.« Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ein Urgewaltiger entsteht, wenn etwas sehr Mächtiges stirbt – zum Beispiel ein Wasserfall oder ein Eisfluss – und seine Seelen sich trennen. Ein Urgewaltiger ist der stärkste Dämon, den es gibt.«
Wolf wand sich aus Toraks Armen und verschwand im Farnkraut. Ein Urgewaltiger, dachte Torak benommen.
Doch das Gespräch über Dämonen brachte den Streuner nur noch mehr aus der Fassung. »Ach, wie sie alles Lebendige hassen!«, stöhnte er
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