Chronik der dunklen Wälder - Wolfsbruder: Band 1 (German Edition)
Nebel hatte sich seit zwei Tagen nicht gelichtet. Es kam ihm falsch vor. Alles an diesem Ort kam ihm falsch vor.
Streuners Anweisungen folgend, hatten sie den »Bach am Fuß des grauen Felsenhügels« verlassen und stiegen jetzt einen gewundenen Pfad bergauf. Sie fühlten sich ungeschützt, alles ringsum kam ihnen bedrohlich vor. Verkrüppelte Birken ragten aus dem Nebel. Hier und da, wo der Hügel vom Wind kahl gefegt war, sah man nackten Fels durchschimmern. Das einzige Geräusch war das hämmernde Tschack-tschack eines Spechts, der seine Rivalen verjagen wollte.
»Er will, dass wir wieder gehen«, meinte Renn. »Vielleicht sind wir in die falsche Richtung gelaufen.«
»Das hätte uns Wolf bestimmt gesagt.«
Renn sah nicht sehr überzeugt aus. »Glaubst du das immer noch?«
»Ja«, sagte Torak. »Allerdings. Denn hätte er uns nicht ins Tal des Streuners geführt, hätten wir die Steinklaue nicht gesehen und nichts über den Steinzahn erfahren.«
»Kann sein. Aber ich finde immer noch, dass wir zu weit nach Osten abgewichen sind. Wir kommen zu dicht an die Hohen Berge.«
»Woher weißt du das, wenn wir keine zehn Schritt weit sehen können?«
»Ich spüre es. Diese kalte Luft kommt direkt vom Eisfluss.«
Torak blieb stehen. »Was für ein Eisfluss?«
»Der am Fuß des Gebirges.«
Torak biss die Zähne zusammen. Er war es allmählich Leid, immer der Dumme zu sein, der über nichts Bescheid wusste.
Sie kletterten schweigend weiter und schon bald hatten sie den Specht hinter sich gelassen. Beunruhigt wurde sich Torak bewusst, wie viel Lärm sie machten: das Knarren seiner Rückentrage, das Knirschen der Kiesel unter Renns Tritten. Er spürte, wie die Steine lauschten, wie die verwachsenen Bäume ihm zur Umkehr rieten.
Plötzlich machte Renn kehrt und kam auf ihn zugelaufen, dass die Kiesel nur so stoben. »Wir haben uns geirrt!«, keuchte sie, die Augen weit aufgerissen.
»Wie meinst du das?«
»Der Streuner hat überhaupt nichts von einem steinernen Wesen erzählt! Das waren wir. Er hat immer nur von einem Stein maul gesprochen!« Sie packte Torak am Arm und zog ihn den Hang hinauf.
Der Boden wurde ebener, der Pfad hörte auf. Torak blieb mitten im wirbelnden Nebel stehen. Als er begriff, was vor ihnen lag, überkam ihn tiefe Verzweiflung.
Über ihnen ragte eine Steilwand auf, grau wie eine Gewitterwolke. An ihrem Fuß, bewacht von einer einzelnen Eibe, klaffte eine dunkle Höhle wie ein stummer Schrei: ein gähnendes Steinmaul.
»Wir können da nicht reingehen«, sagte Renn.
»Wir… ich… muss aber hinein«, widersprach Torak. »Das ist das Steinmaul, von dem der Streuner gesprochen hat. Dort hat er die Steinklaue gefunden und dort finde ich vielleicht auch Steinzähne.«
Aus der Nähe betrachtet, war der Höhleneingang niedriger, als er zunächst angenommen hatte: ein schattiges, kaum schulterhohes Halbrund. Torak legte die Hand auf den Felsen und duckte sich, um hineinzuspähen.
»Sei vorsichtig«, warnte ihn Renn.
Der Höhlenboden führte steil nach unten. Kalte Luft wehte heraus, ein stechender Hauch, wie der Atem einer uralten Kreatur, die noch nie das Licht erblickt hatte.
»Schlimmer Ort«, hatte der Streuner gebrabbelt. »Sehr schlimm. Die todbringende Erde, die alles schlingt und schluckt. Die Wächter sind überall.«
»Beweg deine Hand nicht«, sagte Renn neben ihm.
Als Torak aufblickte, sah er erschrocken, dass seine Finger nur um Haaresbreite von einer großen Hand mit gespreizten Fingern entfernt waren, die tief in den Stein gemeißelt war. Sofort nahm er seine Hand weg.
»Das ist eine Warnung«, flüsterte Renn. »Siehst du die drei Streifen über dem Mittelfinger? Das sind mächtige Zeichen, die das Böse abwehren sollen.« Sie beugte sich darüber. »Das ist alt. Sehr alt. Wir dürfen nicht hinein. Dort unten ist etwas.«
»Was?«, fragte Torak. »Was ist dort unten?«
Renn schüttelte den Kopf. »Vielleicht ein Eingang zur Anderen Welt. Aber es muss etwas Böses sein, sonst hätte man hier nicht die Hand eingeritzt.«
»Mir bleibt trotzdem nichts anderes übrig. Ich gehe hinein. Du bleibst hier.«
»Nein! Wenn du reingehst, komm …«
»Wolf kann ich nicht mitnehmen, er würde den Geruch nicht aushalten. Bleib du hier und pass auf ihn auf. Wenn ich Hilfe brauche, rufe ich.«
Es dauerte eine Weile, aber je länger er auf sie einredete, desto mehr war er selbst davon überzeugt.
Er machte sich bereit, indem er Bogen und Köcher zu seiner Trage, dem Schlafsack und
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