Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir
Denn wenn es keinen Gott gibt, dann ist dieses Leben… jede Sekunde davon… alles, was wir haben.‹
Er lehnte sich zurück, als sei er im Augenblick zum Schweigen gebracht; seine großen Augen zogen sich zusammen, und er starrte ins Feuer. Es war das erste Mal, daß er von mir wegschaute und ich ihn unbemerkt anblicken konnte. Lange Zeit saß er so, und ich konnte seine Gedanken beinahe fühlen, als seien sie in der Luft greifbar. Nicht sie lesen, verstehe mich recht, doch ihre Kraft fühlen. Er schien eine Aura zu besitzen, und obwohl sein Gesicht sehr jung aussah, war es unendlich alt und weise. Ich kann es nicht schildern, denn mir war unerklärlich, wieso die jugendlichen Züge, wieso seine Augen Unschuld ausdrücken konnten und zugleich dieses Alter und diese Erfahrung.
Jetzt stand er auf, die Hände leicht auf den Rücken gelegt, und blickte Claudia an. Ich verstand, weshalb sie die ganze Zeit geschwiegen hatte. Das waren nicht ihre Fragen, doch sie war fasziniert von dem Vampir und lernte zweifellos von ihm, während er mit mir sprach. Doch als sie nun einander ansahen, begriff ich etwas. Er hatte sich erhoben, mit völliger Beherrschung seines Körpers, ohne jedes menschliche Gehabe, das in Notwendigkeit, Gewohnheit und Überlegung wurzelt, und seine Ruhe war ebenso unirdisch. Und Claudia - nie zuvor hatte ich es so gesehen - besaß die gleiche Ruhe. Und sie schauten einander an in einem übernatürlichen Verstehen, von dem ich ausgeschlossen war.
Ich war für sie etwas Schwirrendes und Schwankendes, so wie es Sterbliche für mich waren; und als Armand sich wieder an mich wandte, wußte ich: Er hatte erkannt, daß Claudia meine Vorstellung des Bösen weder glaubte noch teilte.
Er begann ohne Übergang. ›Das also bleibt als einzig wirkliches Böses‹, sagte er zu den Flammen.
Ich antwortete ›Ja‹ und fühlte das alte Thema Wiederaufleben, vor dem alles andere zunichte wurde, so wie es immer bei mir gewesen war.
›So ist es‹, bestätigte er; und es erfüllte mich mit Entsetzen und vertiefte meine Traurigkeit, meine Verzweiflung.
›Also gibt es Gott nicht…‹, sagte ich. ›Sie haben keine Kenntnis von seiner Existenz?‹
›Keine‹, antwortete er.
›Keine Kenntnis‹, sagte ich wieder, ohne vor meiner Einfalt, meinen elenden menschlichen Leiden zu bangen, und er wiederholte: ›Keine.‹
Ich fragte weiter: ›Und kein Vampir hier hat Zwiesprache mit Gott oder dem Teufel?‹ Und er erwiderte nachdenklich, während sich Feuerflämmchen in seinen Augen spiegelten: ›Kein Vampir, den ich kenne. Und soviel ich heute nach vierhundert Jahren weiß, bin ich der älteste, lebende Vampir auf der Welt.‹
Erstaunt blickte ich ihn an. Dann begannen seine Worte in mich einzudringen. Es war so, wie ich es stets gefürchtet hatte - Einsamkeit und völlige Hoffnungslosigkeit. Es würde so weitergehen wie bisher, weiter und weiter. Mein Suchen war zu Ende. Ich lehnte mich teilnahmslos zurück und blickte in die züngelnden Flammen. Es hatte keinen Zweck, es fortzusetzen, durch die Länder zu reisen, um immer wieder die gleiche Geschichte zu hören. › Vierhundert Jahre!‹ ich glaube, ich wiederholte die Worte - Vierhundert Jahre!‹ Ich starrte ins Feuer. Ein Holzklotz zerfiel langsam; er war voll kleiner Löcher, in denen winzige Flämmchen tanzten, und alle diese Flämmchen schienen mir Gesichter, die einen lautlosen Chor sangen.
Plötzlich bewegte sich Armand auf mich zu; ich sah den dunklen Schatten, hörte seinen Umhang rascheln. Dann kniete er vor mir und hielt mit brennenden Augen meinen Kopf in den ausgestreckten Händen. Er sagte: ›Dieses Böse, diese Vorstellung des Bösen - kommt aus der Bitterkeit, der Enttäuschung! Sehen Sie das nicht? Kinder des Satans! Kinder Gottes! Ist das die einzige Frage, die Sie mir stellen, ist das die einzige Kraft, die Sie bewegt, so daß Sie uns selber zu Göttern und Teufeln machen müssen, wo doch die einzige Kraft, die es gibt, in uns selbst ist? Wie konnten Sie an dieses alten phantastischen Lügen glauben, an diese Mythen, diese Fetische des Übernatürlichen?‹ Er sprang auf und riß den Teufel von der Wand und warf ihn ins Feuer, so schnell, daß ich der Bewegung nicht folgen konnte und nur sah, wie der Dämon in den Flammen versank.
In mir zerbrach etwas, als er dies sagte, etwas brach auf, so daß ein Strom von Gefühlen herausschoß. Ich sprang ebenfalls auf und wich vor ihm zurück.
›Sind Sie von Sinnen?‹ rief ich, erstaunt über
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