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Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir

Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir

Titel: Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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obgleich ich nicht wußte, ob er überleben würde oder nicht.‹
    ›Warum macht Sie das böse wie nur je einen Vampir? Gibt es nicht Stufen des Bösen? Ist das Böse denn ein großer gefährlicher Abgrund, in den man mit der ersten Stunde fällt und gleich in die unterste Tiefe sinkt?‹
    ›Ja, ich glaube, daß es so ist‹, sagte ich. »Es ist nicht alles so logisch, wie Sie es erscheinen lassen. Das große Dunkel, die tiefe Leere, die gibt es. Und sie ist ohne Trost.‹
    ›Sie sind nicht gerechte sagte er, und zum ersten Mal kam eine Spur von Ausdruck in seine Stimme. »Sicher erkennen Sie doch der Güte ein hohes Maß von Abstufungen und Spielarten zu. Es gibt die unschuldige Güte des Kindes, und es gibt die Güte des Mönches, der alles den anderen gibt und ein Leben der Entsagung und des Dienstes an Gott führt. Die Güte der Heiligen, die Güte der Hausfrauen und Mütter. Sind sie alle gleich?‹
    ›Nein. Aber gleichermaßen und unendlich weit entfernt vom Bösem, antwortete ich.
    Ich weiß nicht, ob ich diese Dinge dachte. Ich sprach sie aus, als seien sie meine Gedanken. Und sie waren zu gleicher Zeit meine tiefsten Gefühle, die nur durch dieses Aussprechen ihre Gestalt annahmen. Dann vermutete ich, einen im gewissen Sinne passiven Verstand zu besitzen. Ich meine, daß mein Gott sich nur zusammennehmen und aus dem Wirrwarr von Schmerz und Verlangen Gedanken formulieren konnte, wenn er mit einem anderen Geist in Berührung kam und von ihm befruchtet wurde; wenn er von einem anderen Geist angeregt und getrieben wurde, Schlüsse zu ziehen. Ich verspürte eine äußerst starke und seltene Linderung der Einsamkeit. Ich konnte mir ohne Schwierigkeiten jenen Augenblick vergegenwärtigen, als ich in einem anderen Jahrhunden am Fuß von Babettes Treppe gestanden hatte, und ich konnte die immerwährende kalte Enttäuschung der Jahre mit Lestat spüren, und dann jene leidenschaftliche, dem Untergang geweihte Zuneigung zu Claudia, jene Zuneigung, die die Einsamkeit hinter die Maßlosigkeit der Sinne stellte, der gleichen Sinne, die darauf versessen waren zu töten. Und ich konnte den verlassenen Ort in Transsylvanien vor mir sehen, wo ich dem unbeseelten Vampir begegnet war und ihn in den Ruinen des Klosters getötet hatte. Und mir war, als sei das starke weibliche Verlangen meiner Sinne wiedererweckt worden, um befriedigt zu werden. Und das verspürte ich ungeachtet meiner eigenen Worte: ›Das große Dunkel, die tiefe Leere, die gibt es. Und sie ist ohne Trost.‹
    Ich sah hinüber zu Armand, in die großen braunen Augen in dem straffen und alterslosen Gesicht, die mich wieder wie ein Gemälde betrachteten; und ich spürte, daß sich die materielle Welt wieder verschob wie in dem Saal mit den Bildern; und ich merkte, wie abermals der alte Wahn an mir zerrte, wie das schreckliche Verlangen wiedererwachte und wie die Hoffnung auf Erfüllung schon die unerträgliche Möglichkeit der Enttäuschung in sich trug. Und doch verfolgte mich diese schreckliche uralte Frage des Bösen.
    Ich glaube, ich legte meine Hände an den Kopf, so wie es die Sterblichen tun, wenn sie zutiefst gequält instinktiv ihr Gesicht verbergen, als könnten sie ihre Höllenqualen durch den Schädel hindurch aus dem Gehirn massieren.
    »Und wie kommt man zum Bösen?‹ fragte er. »Wie fällt man aus der Gnade und wird augenblicks so böse wie das Pöbeltribunal der Revolution oder die grausamsten der römischen Kaiser? Braucht man dazu nur die Messe am Sonntag zu versäumen oder die Abendmahlshostie zu zerbeißen? Oder einen Laib Brot zu stehlen… oder mit seines Nächsten Weib zu schlafen?‹
    Ich schüttelte den Kopf.
    Und er fuhr fort: ›Aber wenn das Böse ohne Stufen ist und es ihn gibt, diesen Zustand des Bösen, dann bedarf es nur einer einzigen Sünde. Ist es nicht das, was Sie sagen? Daß es Gott gibt und…‹
    ›Ich weiß nicht, ob es Gott gibt‹, sagte ich. ›Und nach allem, was ich weiß… gibt es ihn nicht.‹
    ›Dann ist keine Sünde von Belang‹, sagte er. ›Keine Sünde bringt das Böse zustande.‹
    Ich widersprach. »Das ist nicht wahr. Denn wenn es keinen Gott gibt, sind wir die Geschöpfe des höchsten Bewußtseins im Weltall. Wir allein verstehen den Lauf der Zeit und den Wert jeder Minute des menschlichen Lebens. Und das Böse, das wirklich Böse, besteht darin, ein einzelnes Menschenleben auszulöschen. Ob ein Mensch ohnehin morgen sterben würde oder übermorgen oder irgendwann einmal… es spielt keine Rolle.

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