Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir
New Orleans schildern, wie es damals war und wie es werden sollte, damit du begreifst, wie einfach unser Leben war. Es gab in ganz Amerika keine Stadt, die New Orleans glich. Nicht nur Franzosen und Spanier, aus denen sich die Aristokratie der Stadt zusammensetzte, wohnten darin, sondern auch spätere Einwanderer aller Art, besonders Iren und Deutsche. Daneben die Menge der schwarzen Sklaven, noch unzivilisiert und fremdartig in ihren verschiedenen Stammessitten und Trachten, und auch die wachsende große Klasse der freien Farbigen, ein erstaunliches Volk, in dem sich unser Blut mit dem der Inseln mischte und aus dem eine einzigartige Kaste von Handwerkern, Künstlern, Dichtem und berühmte weibliche Schönheiten hervorgehen sollte. Und dann die Indianer, die im Sommer auf der Wallpromenade Kräuter und bunte Tücher, Schmuck und Töpfereiwaren feilboten. Und durch dieses Gemisch von Farben und Sprachen schlenderten die Männer vom Hafen, die Matrosen von den Schiffen, die ihr Geld in den Nachtlokalen ausgaben, sich in den Restaurants das beste französische und spanische Essen und die Weine aus aller Welt schmecken ließen und sich für die Nacht die schönen dunklen oder hellen Frauen kauften. Dann kamen innerhalb von Jahren nach meiner Umwandlung die Amerikaner aus dem Norden hinzu; sie bauten sich flußabwärts von dem alten französischen Viertel prächtige Häuser, die im Mondschein wie griechische Tempel leuchteten. Und natürlich die Pflanzer, die in glänzenden Landauern mit ihren Familien in die Stadt gefahren kamen, um Kleider, Silber und Schmuck zu kaufen und die engen Straßen zur Französischen Oper, dem Théâtre d’Orléans, füllten.
Aus der Kathedrale des heiligen Ludwig drangen sonntags durch die offenen Türen die Gesänge der Messe und schwebten über den Menschenmengen auf der Place d’Armes und über den geisterhaft stillen Schiffen auf dem Mississippi, der in seinem eingedämmten Bett höher lag als die Stadt selbst, so daß die Schiffe am Himmel dahinzuziehen schienen.
Das war New Orleans, eine zauberhafte und herrliche Stadt, in der ein Vampir, elegant gekleidet und sittsam unter den Gaslaternen durch die Straßen wandelnd, am Abend nicht mehr Aufmerksamkeit erregte als Hunderte von anderen exotischen Gestalten. Wenn er überhaupt jemandem auffiel, dann flüsterte es höchstens hinter vorgehaltenem Fächer: ›Dieser Mann da… wie bleich er ist… wie er schimmert, wie er sich bewegt… richtig übernatürliche Und ich, der Vampir, war verschwunden, ehe solche Worte zu Ende gesprochen wurden, und suchte mir dunkle Gassen, wo ich wie eine Katze sehen konnte, ohne selber gesehen zu werden, düstere Lokale, wo die Seeleute schliefen, den Kopf auf dem Tisch, oder hohe Hotelhallen, wo ein Einsamer sitzen mochte, die Füße auf einem bestickten Kissen, die Beine mit einer Spitzendecke bedeckt, den Kopf unter gedämpftem Kerzenlicht - ohne den großen Schatten zu sehen, der sich lautlos über ihn beugte und mit langen weißen Fingern die schwache Flamme ausdrückte. Es ist vor allem erstaunlich, daß all jene Männer und Frauen, die aus irgendeinem Grund in der Stadt blieben, irgendein Denkmal, ein Gebäude aus Marmor, Klinker oder Stein hinterließen, das noch immer steht; so daß selbst als die Gaslaternen verloschen und die Flugzeuge kamen und sich in der Canal Street die Bürogebäude drängten, sich etwas hielt, das von Schönheit und Romantik zeugte; vielleicht nicht überall, doch immerhin soviel, daß die Stadt für mich das ist, was sie immer war, und wenn ich heute durch die sternenbeschienenen Straßen des Quarter oder des Garden District spaziere, fühle ich mich wieder in die alte Zeit zurückversetzt. Das muß wohl das Wesen des Denkmals sein. Sei es nun ein kleines Haus oder eine Villa mit korinthischen Säulen und gußeiserner Zierde. Das Denkmal sagt nicht, daß dieser oder jener Mensch hier gewandelt ist: Nein, was er an einem Ort zu einer bestimmten Zeit empfunden hat, währt weiter. Der Mond, der damals über New Orleans aufgegangen ist, geht noch immer auf. Er geht noch immer auf, solange die Denkmäler stehen. Die Empfindungen, zumindest hier… und dort… sie bleiben die gleichen.«
Der Vampir schwieg versonnen. »Wovon sprach ich?« fragte er plötzlich, als sei er müde geworden. »Ja, vom Geld. Lestat und ich mußten Geld verdienen. Und er konnte stehlen, wie ich dir schon sagte. Aber es kam darauf an, das Geld danach anzulegen. Was wir angehäuft hatten, mußten
Weitere Kostenlose Bücher