Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir
abermals die Augen abwandte. Schließlich hob er sie und erwiderte den Blick des Vampirs. Er schluckte, doch er hielt dem Blick stand.
»Ist es das, was du wolltest?« flüsterte der Vampir. »Was du zu hören wünschtest?«
Er schob seinen Stuhl geräuschlos zurück und ging zum Fenster. Der Junge blieb wie betäubt sitzen und sah dem Vampir nach, blickte auf die breiten Schultern, die weite Fläche des Umhangs. »Du antwortest nicht«, fuhr der Vampir fort. »Ich gebe dir nicht, was du erwartest hattest, nicht wahr? Du wolltest ein Interview. Etwas, das man im Rundfunk bringen kann.«
»Es macht nichts. Ich werde die Bänder fortwerfen, wenn Sie wollen.« Der Junge stand auf. »Ich kann nicht sagen, daß ich alles verstehe, was Sie mir erzählen. Wollte ich es sagen, müßte ich lügen, und Sie würden es merken. Wie kann ich Sie also bitten fortzufahren, wenn ich nur sagen kann, daß das, was ich verstehe - was ich wirklich verstehe -, nicht die geringste Ähnlichkeit mit irgend etwas hat, das ich je gehört oder verstanden habe.« Er trat einen Schritt auf den Vampir zu, der in den Anblick der Straße vertieft schien, bis er langsam den Kopf drehte, den Jungen ansah und lächelte. Sein Gesichtsausdruck war heiter und fast liebevoll. Der Junge fühlte sich verlegen. Er steckte die Hände in die Taschen und wandte sich zum Tisch zurück; dann sah er den Vampir zögernd an und sagte: »Wollen Sie, bitte… weitererzählen?«
Der Vampir stellte sich mit dem Rücken zum Fenster und faltete die Arme. »Warum?« fragte er.
Der Junge war verlegen. »Weil ich… weil ich es hören möchte.« Er zuckte die Achseln. »Weil ich wissen möchte, wie es weiterging.«
»Also gut«, sagte der Vampir, noch immer lächelnd. Er setzte sich wieder auf seinen Stuhl, dem Jungen gegenüber, und zeigte auf das Tonbandgerät. »Eine wunderbare Erfindung, wirklich… laß mich also fortfahren. Du mußt verstehen - was ich für Babette fühlte, war das Verlangen nach Vereinigung, stärker als irgendein Verlangen, das ich damals emp fand… außer dem Verlangen nach… Blut. Es war so mächtig in mir, dieses Verlangen, daß ich die Tiefe meiner Einsamkeit desto stärker spürte. Wenn ich vorher mit ihr gesprochen hatte, so war es ein kurzer, direkter Austausch gewesen, so einfach und befriedigend wie ein Händedruck - man ergreift die Hand und läßt sie sanft wieder los. All das in einem Augenblick großer Not und Pein. Aber jetzt waren wir uneins. Für Babette war ich ein Ungeheuer, und ich empfand es selber als schrecklich, und ich hätte alles getan, um sie zu überzeugen. Ich sagte ihr, der Rat, den ich ihr gegeben, sei richtig, und kein Werkzeug des Teufels könne das Rechte tun, selbst wenn es wollte.
›Ich weiß es‹, erwiderte sie. Doch sie meinte damit, daß sie mir nicht mehr trauen könne als dem Teufel selber. Ich trat auf sie zu und hob die Hand, und sie schrak zurück und klammerte sich an das Geländer. ›Also gut‹, sagte ich und fühlte eine schreckliche Erbitterung. ›Warum haben Sie mir dann gestern abend Schutz gewährt? Warum sind Sie jetzt allein zu mir gekommen?‹ Sie mußte einen Grund dafür gehabt haben, doch würde sie ihn mir um keinen Preis verraten; es war ihr unmöglich, offen zu mir zu sprechen, mir die Verständigung zu gewähren, die ich begehrte. Ich wurde es müde, sie anzuschauen. Es war schon spät in der Nacht; ich konnte sehen und hören, daß Lestat sich in den Weinkeller geschlichen hatte, um unsere Särge zu holen. Ich fühlte den Drang aufzubrechen und darüber hinaus den Drang… zu töten und zu trinken. Aber das war es nicht, was mich müde machte; es war etwas anderes, weit Schlimmeres. Es war, als sei diese Nacht nur eine von vielen tausend Nächten, eine Welt ohne Ende, in der eine Nacht in einem unendlichen Bogen in die andere floß, eine Nacht, in der ich allein unter kalten, teilnahmslosen Sternen umherschweifte. Ich glaube, ich wandte mich von Babette ab und legte die Hand auf die Augen; ich fühlte mich auf einmal bedrückt und schwach. Und in dieser unermeßlichen und öden Landschaft der Nacht, wo ich ganz allein war und Babette nur ein Trugbild, da sah ich plötzlich eine Möglichkeit, die ich zuvor nie erwogen hatte, eine Möglichkeit, vor der ich geflohen war, besessen von der Welt und befangen in der Gefühlswelt eines Vampirs, in Liebe zu Farbe und Form und Ton und unendlicher Vielfalt. Babette bewegte sich, doch ich beachtete es nicht. Sie nahm etwas aus der Tasche,
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