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Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir

Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir

Titel: Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Zimmerschlüsseln zurückkehrte. Und er tat es. Ich saß müde im Wagen und sah zu, wie der alte Mann schwächer und schwächer wurde und schließlich wie ein Sack voller Steine hinsank, als Lestat von ihm ließ. ›Gute Nacht, teurer Prinz‹, sagte Lestat spöttisch, ›und hier sind deine fünfzig Dollar.‹ Und er steckte ihm das Geld in die Tasche, als wäre es ein Riesenspaß.
    Dann schlüpften wir durch den Hintereingang ins Hotel und gingen in den Salon unseres Appartements hinauf. Der Champagner schimmerte in einem Eiskübel, zwei Gläser standen auf einem Silbertablett. Lestat füllte sogleich ein Glas und starrte auf die blaßgelbe Farbe - ich hätte es voraussagen können. Und ich, wie in Trance, lag auf dem Sofa und starrte ihn an, als sei es völlig gleichgültig, was er tat. Ich muß ihn verlassen oder sterben, dachte ich. Es würde süß sein zu sterben, dachte ich. Ja, sterben. Schon früher hatte ich sterben wollen, jetzt wünschte ich es mir sehnlich. Ich sah es mit einer solch sanften Klarheit, mit solch äußerster Gelassenheit.
    ›Du wirst überempfindlich‹, sagte Lestat plötzlich. ›Es dämmert fast.‹ Erging zum Fenster und zog den Spitzenvorhang zurück, und ich konnte die Dachfirste unter dem dunkelblauen Himmel erkennen und darüber das große Sternbild des Orion. ›Geh töten!‹ sagte Lestat und öffnete das Fenster. Er stieg auf den Sims hinauf, und von dort auf ein Dach neben dem Hotel. Ich wußte, er holte die Särge, oder wenigstens einen. Der Durst brannte in mir wie Fieber; ich folgte ihm. Mein Verlangen zu sterben hielt an. Leidenschaftslos, wie ein reiner Gedanke. Doch ich mußte Nahrung zu mir nehmen. Damals wollte ich noch keine Menschen töten, und ich ging das Dach entlang, um Ratten zu suchen.«
    »Aber warum… Sie sagten doch Lestat hätte Sie nicht mit Menschen beginnen lassen sollen. Meinten Sie… meinen Sie, es war für Sie eine Sache der Ästhetik, nicht der Moral?«
    »Hättest du mich damals gefragt, dann hätte ich geantwortet, es sei eine Sache der Ästhetik gewesen, daß ich den Tod in Etappen zu verstehen wünschte. Daß der Tod eines Tieres mir solch ein Erlebnis und solche Lust bereitete, war erst ein Anfang, und ich wollte mir das Erlebnis des Menschentodes für mein reiferes Verständnis bewahren. Aber es war eigentlich eine Sache der Moral. Denn alle ästhetischen Entscheidungen sind im Grunde moralische.«
    »Das verstehe ich nicht«, sagte der Junge. »Ich dachte, ästhetische Entscheidungen können ganz und gar unmoralisch sein. Denken Sie an die Geschichte von dem Künstler, der Frau und Kinder verließ, um malen zu können. Oder an Nero, der die Harfe spielte, während Rom brannte.«
    »Beides waren moralische Entschlüsse. Beide dienten, in der Vorstellung des Künstlers, einem höheren Gott. Der Widerspruch liegt zwischen der Moral des Künstlers und der Moral der Gesellschaft, nicht zwischen Ästhetik und Moral. Aber das wird oft nicht verstanden, und darin liegt die Tragödie. Ein Künstler, zum Beispiel, der Farben stiehlt, glaubt, er habe etwas Unvermeidliches und auch Unmoralisches getan und sieht sich in Ungnade gefallen; die Folge ist Verzweiflung oder Verantwortungslosigkeit, als ob die Moral eine Welt aus Glas wäre, die durch eine einzige Tat in Scherben gehen könne. Doch damals war dies nicht meine große Sorge; damals wußte ich nichts von diesen Dingen. Ich glaubte, Tiere nur aus ästhetischen Gründen zu töten, und wich der wichtigsten moralischen Frage aus, ob ich meiner Natur wegen verdammt sei oder nicht.
    Denn siehst du, obwohl Lestat niemals zu mir vom Teufel oder der Hölle gesprochen hatte, glaubte ich, daß ich verdammt sei, wenn ich zu ihm überginge, so wie es Judas geglaubt haben muß, als er sich die Schlinge um den Hals legte. Du verstehst?«
    Der Junge sagte nichts. Er setzte zum Sprechen an, schwieg jedoch. Auf seinen Wangen brannten rote Flecken. »Und waren Sie… verdammt?« flüsterte er.
    Der Vampir saß nur da und lächelte, ein kleines Lächeln, das wie ein Lichtschein auf seinen Lippen spielte. Der Junge starrte ihn an, als sähe er ihn zum ersten Mal.
    »Vielleicht«, sagte der Vampir - er richtete sich gerade und kreuzte die Beine »müßten wir alles der Reihe nach besprechen. Vielleicht sollte ich erst in meiner Geschichte fortfahren.«
    »Ja, bitte…«
    »Ich war sehr erregt in dieser Nacht, wie ich schon erzählte. Ich hatte mich vor jener Frage als Vampir gedrückt; jetzt wurde ich völlig von ihr

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