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Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir

Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir

Titel: Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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überwältigt, und in diesem Zustand hatte ich nicht den Wunsch zu leben. Nun, dies erweckte in mir, wie es auch bei menschlichen Wesen der Fall sein kann, die Begierde nach etwas, das wenigstens physisches Verlangen befriedigen würde. Ich glaube, ich gebrauchte es als Entschuldigung. Du weißt, was den Vamp iren das Töten bedeutet, und du kannst dir aus dem, was ich dir erzählte, den Unterschied zwischen einer Ratte und einem Menschen vorstellen.
    Ich stieg hinter Lestat hinunter auf die Straße. Damals waren die Straßen schmutzig und die Häuserblocks wie Inseln über den Gassen. Die ganze Stadt war dunkel, verglichen mit den hellen Städten von heute, und die einzelnen Lichter schimmerten wie Leuchtbojen in einem schwarzen Meer. Auch als der Morgen langsam dämmerte, tauchten nur die Dachfenster und Veranden aus dem Dunkel, und einem Sterblichen müssen die engen Straßen pechschwarz vorgekommen sein. Bin ich verdammt? Bin ich des Teufels? Ist meine ganze Natur die eines Teufels? So fragte ich mich immer wieder. Und wenn es so ist, warum lehne ich mich dagegen auf, warum zittere ich, wenn Babette eine brennende Laterne nach mir schleudert, wende ich mich angewidert ab, wenn Lestat tötet? Was bin ich geworden, als ich ein Vampir wurde? Wohin soll ich gehen? Und in der ganzen Zeit, während der Todeswunsch mich meinen Durst vernachlässigen ließ, wurde mein Durst heißer, brannten die Adern schmerzhaft in meinem Fleisch, hämmerten meine Schläfen; und schließlich konnte ich es nicht länger ertragen. Hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, nichts zu tun und zu verhungern, und dem Trieb zu töten, stand ich auf der leeren Straße. Da hörte ich auf einmal hinter einer Hauswand ein Kind weinen.
    Ich trat neugierig näher und hob einen schweren hölzernen Fensterladen in die Höhe. In einem dunklen Zimmer saß ein Mädchen neben einer toten Frau, einsam und allein, und weinte herzzerbrechend und war so müde, als habe es jetzt unendlich lange geweint und müsse gleich vor Erschöpfung aufhören. Die Frau muß schon seit Tagen tot gewesen sein; das Zimmer war vollgestellt mit Koffern und Paketen, wie wenn eine ganze Familie im Aufbruch gewesen; doch jetzt war niemand mehr da außer dem Kind mit der halbbekleideten, schon halbverwesten Leiche. Als das Mädchen mich sah, bat es mich, etwas zu tun, um ihrer Mutter zu helfen. Sie war höchstens fünf, sehr mager, und das Gesicht war mit Schmutz und Tränen bedeckt. Sie flehte mich um Hilfe an. Sie beide müßten mit dem Schiff fort, sagte die Kleine, bevor die Pest käme, und ihr Vater warte schon auf sie. Das Mädchen schüttelte seine Mutter und schrie verzweifelt und mitleiderregend; dann blickte sie mich wieder an und brach von neuem in eine Tränenflut aus.
    Mittlerweile verging ich vor Hunger und Durst. Ich mußte unbedingt trinken, einen weiteren Tag ohne Nahrung hätte ich nicht ausgehalten. Wohl gab es andere Möglichkeiten: In den Straßen liefen Ratten im Überfluß umher, und irgendwo in der Nähe hörte ich einen Hund heulen; ich hätte ohne weiteres das Zimmer verlassen, mich anderweitig sättigen und dann zurückkehren können. Doch mich ließ die Frage nicht los: Bin ich verdammt? Wenn ja, warum empfinde ich dann solches Mitleid mit diesem Kinde, mit seinem mageren Gesichtchen? Warum drängt es mich, die kleinen Ärmchen zu streicheln, es auf die Knie zu nehmen, sanft das weiche Haar zu berühren, während sie den Kopf an meine Brust legt? Warum tue ich das? Wenn ich verdammt bin, muß ich den Wunsch haben, sie zu töten, nichts in ihr zu sehen als Nahrung für eine verdammte Existenz, denn wenn ich verdammt bin, bin ich gezwungen, sie zu hassen.
    Und während mir diese Gedanken durch den Kopf gingen, sah ich Babettes haßverzogenes Gesicht, als sie die Laterne hochgehalten hatte, sah Lestat vor mir und haßte ihn; und ich fühlte: ja, verdammt, und dies ist die Hölle, und schon beugte ich mich nieder und biß in den weichen kleinen Hals, und als ich den leisen Aufschrei hörte, flüsterte ich, das warme Blut auf den Lippen: ›Es ist nur ein Augenblick, dann fühlst du keinen Schmerz mehr.‹ Doch sie hörte mich nicht, und ich konnte nichts mehr sagen. Vier Jahre lang hatte ich kein menschliches Wesen mehr genossen, vier Jahre lang nicht mehr gewußt, wie es ist - und jetzt hörte ich ihr Herz schlagen - nicht das eines erwachsenen Mannes oder Tieres, sondern den schnellen Herzschlag eines Kindes, das nicht sterben will, beharrlich wie der

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