Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir
Schlag einer kleinen Faust an der Tür, als riefe es unablässig: ›Ich will nicht sterben, ich will nicht sterben, ich kann nicht sterben, ich kann nicht sterben…‹ Ich glaube, ich stand auf, das Mädchen fest in den Armen; mein Herz schlug rascher mit ihrem Herzschlag, und das Blut strömte zu schnell für mich. Das Zimmer drehte sich um mich, und dann starrte ich, ohne zu wollen, über das gebeugte Köpfchen hinweg und sah der toten Mutter ins Gesicht, und mir schien, als blickten mich durch die halbgeschlossenen Lider die Augen an, als lebten sie! Ich ließ das Kind fallen, es blieb wie eine Puppe liegen, und als ich mich schreckerfüllt abwandte, um zu fliehen, sah ich Lestat am Fenster, der draußen auf der morastigen Straße tanzte und sich vor Lachen krümmte. ›Louis, Louis!‹ sagte er mit spöttischem Vorwurf und drohte mit seinem langen, knochigen Finger, als habe er mich bei etwas Unerlaubtem ertappt. Und dann sprang er über die Fensterbrüstung, schob mich beiseite, hob die halbverweste Leiche vom Bett und tanzte mit ihr im Zimmer umher.«
»O mein Gott!« flüsterte der Junge.
»Ja, ich hätte dasselbe sagen mögen«, sagte der Vampir. »Er stolperte über das Kind, als er die Mutter in großen Kreisen mit sich zog, und sang beim Tanzen. Als ihr Kopf zurückfiel, hing ihr das verfilzte Haar ins Gesicht, und aus ihrem Mund ergoß sich eine schwarze Flüssigkeit. Dann ließ er sie fallen. Ich sprang aus dem Fenster und lief die Straße hinunter. Lestat kam hinter mir her. ›Fürchtest du dich vor mir, Louis?‹ rief er. ›Hast du Angst? Das Kind lebt; du hast ihr Atem genug gelassen. Soll ich sie holen und einen Vampir aus ihr machen? Wir könnten sie brauchen, Louis, und denk an die hübschen Kleider, die wir ihr kaufen würden! Warte doch, Louis! Ich hole sie, wenn du einverstanden bist.‹ Und so lief er mir nach, den ganzen Weg zum Hotel zurück, über alle Dächer, wo ich ihn zu verlieren hoffte, bis ich durch das Fenster in unseren Salon einstieg und das Fenster hinter mir verschloß. Er zerschlug die Scheibe mit ausgestreckten Armen, wie ein Vogel, der versucht, durch das Glas hindurchzufliegen und schüttelte am Fensterrahmen. Ich war völlig von Sinnen, lief im Zimmer umher und suchte nach einem Gegenstand, mit dem ich ihn töten konnte. Ich stellte mir vor, wie sein Körper auf dem Dach zu einem kleinen Häufchen verbrannte. Alle Vernunft war von mir gewichen, und ich schäumte vor Wut. Als er durch die zerbrochene Scheibe kam, griff ich ihn an, und wir rangen miteinander wie nie zuvor. Es muß die Hölle gewesen sein, die mich einhalten ließ, der Gedanke an die Hölle und daß wir zwei verlorene Seelen in der Hölle seien, die einander haßerfüllt anfielen. Ich verlor mein Selbstbewußtsein, meine Entschlußkraft; ich lag auf dem Boden, und Lestat stand über mir, mit kalten Augen, obwohl seine Brust sich hob und senkte. ›Du bist ein Narr, Louis‹, sagte er. Seine Stimme war ruhig, so ruhig, daß ich wieder zur Besinnung kam. ›Die Sonne geht auf‹, fuhr er fort, und sein Brustkorb hob und senkte sich noch von dem Kampf, als er mit zusammengekniffenen Augen zum Fenster sah. Noch nie hatte ich ihn so gesehen; unser Kampf oder irgend etwas anderes schien ihn eines Besseren belehn zu haben. ›Leg dich in deinen Sarg‹, sagte er ohne die geringste Erregung, ›doch heute abend… reden wir miteinander‹
Nun, ich war nicht wenig erstaunt. Lestat und reden! Ich konnte es mir nicht vorstellen. Nie hatten wir beide wirklich miteinander geredet. Ich glaube, ich habe dir recht genau geschildert, wie unsere Plänkeleien, unsere Auseinandersetzungen vor sich gingen.«
»Er war auf das Geld aus, auf Ihre Häuser«, sagte der Junge. »Oder fürchtete er, allein zu sein, so allein, wie Sie waren?«
»Das habe ich mich auch gefragt. Es kam mir sogar in den Sinn, daß Lestat mich töten wollte, auf eine Weise, die ich mir nicht vorstellen konnte. Weißt du, ich war mir damals nicht klar darüber, warum ich jeden Abend erwachte, ob mich der todesähnliche Schlaf automatisch verließ und wieso es manchmal früher als sonst geschah. Es gehörte zu den Dingen, die Lestat nicht erklären mochte. Und er war häufig vor mir auf. In allen mechanischen Dingen war er mir überlegen, wie ich schon angedeutet habe. Und an jenem Morgen schloß ich den Sarg über mir in einer Art Verzweiflung. Das Schließen des Sarges, wie ich dir erklären muß, ist immer beunruhigend. Es ist etwa so, wie wenn man
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