Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir
›Sie ist dumm‹, sagte die andere, die zum Fenster gegangen war und auf die Lichter der Straße hinaussah. New Orleans war damals eine Stadt mit vielen niedrigen Gebäuden, wie du wahrscheinlich weißt. Und von den hohen Fenstern dieses neuen spanischen Hotels sahen die laternenerleuchteten Straßen in einer klaren Nacht wie dieser wunderschön aus; und die Sterne hingen in jenen Tagen so tief über der düsteren Stadt wie am Meer. ›Ich kann Ihre kalte Haut besser wärmen als sie‹, sagte sie und wandte sich zu Lestat um, und ich muß gestehen, ich fühlte mich beinahe erleichtert bei dem Gedanken, daß er mit ihr ebenso verfahren würde. Aber so etwas Einfaches hatte er nicht vor. ›Meinen Sie?‹ fragte er sie. Er nahm sie bei der Hand, und sie sagte erstaunt: ›Ach, sie ist ja ganz warm!‹« »Sie meinen, das Blut hatte ihn erwärmt?« fragte der Junge. »O ja. Nachdem er getötet hat, ist ein Vampir ebenso warm, wie du es jetzt bist.« Er sah den Jungen lächelnd an. »Wie ich schon sagte… Lestat hielt die Hand der Frau in der seinen und sagte, die andere habe ihm eingeheizt. Sein Gesicht war gerötet, ganz verändert. Er zog die Frau an sich, und sie küßte ihn und sagte lachend, er sei ein wahrer Ofen an Hitze und Leidenschaft.
›Ja, aber der Preis ist hoch‹, erwiderte er und täuschte Traurigkeit vor. ›Ihre hübsche Freundin…‹ Er zuckte die Achseln. ›Ich habe sie erschöpft.‹ Und er trat zurück, als wolle er die Frau auffordern, zum Tisch zu gehen. Und sie tat es, mit einer Miene der Überlegenheit, beugte sich hinunter, um ihre Freundin anzusehen, verlor jedoch das Interesse - bis sie etwas bemerkte. Es war eine Serviette, die einige Blutstropfen aus der Wunde in der Kehle aufgefangen hatte. Sie hob sie auf und bemühte sich, im Halbdunkel etwas zu sehen. ›Laß dein Haar herunten, sagte Lestat mit sanfter Stimme. Sie gehorchte gleichmütig und löste die letzten Strähnen, so daß ihr Haar blond und wellig über den Rücken fiel. ›Weich‹, sagte er, ›so weich! Ich stelle mir vor, wie du damit in einem seidenen Bett liegst.‹
›Was Sie für Sachen sagen!‹ erwiderte sie schnippisch und drehte ihm den Rücken zu.
›Weißt du, was für ein Bett?‹ fragte er. Und sie lachte und sagte, sie könne es sich denken, sein Bett natürlich. Sie blickte zurück, als er näher trat und ohne den Blick von ihr zu wenden, den Körper ihrer Freundin leicht berührte, so daß er vom Stuhl fiel und mit aufgerissenen Augen auf dem Boden liegenblieb. Der anderen verschlug es den Atem, sie taumelte von der Leiche zurück und stürzte fast über ein kleines Tischchen. Die Kerze fiel um und verlosch. ›Lösch das Licht‹, sagte Lestat mit seiner sanften Stimme. ›Lösch das Licht!‹ Und er nahm sie, die sich vergebens wie eine flatternde Motte wehrte, in seine Arme und grub die Zähne in ihren Hals.«
»Was dachten Sie sich, als Sie das mit ansahen?« fragte der Junge. »Wollten sie ihn zurückhalten, so wie Sie ihn hindern wollten, Freniére zu töten?«
»Nein«, erwiderte der Vampir. »Ich hätte ihn nicht zurückhalten können. Du mußt verstehen - ich wußte ja, daß er jede Nacht Menschen tötete. Tiere gaben ihm keine Befriedigung. Auf Tiere konnte er zurückgreifen, wenn sonst alles fehlschlug, doch sie kamen nicht in erster Linie in Frage. Wenn ich Mitgefühl für diese Frauen hatte, so wurde es übertönt von dem Aufruhr, der in meinem Inneren tobte. Noch immer fühlte ich das Herzklopfen des sterbenden Kindes in meiner Brust, noch immer brannten mir die Fragen nach meiner eigenen gespaltenen Natur. Es ärgerte mich.. daß Lestat dieses Theater für mich aufgezogen hatte und nun offenbar darauf gewartete hatte, daß ich erwachte, bevor er die Frauen tötete; und wieder fragte ich mich, ob ich irgendwie von ihm loskommen könnte, und mehr denn je fühlte ich zugleich den Haß auf ihn und meine eigene Schwäche.
Inzwischen hatte er die beiden liebreizenden Körper am Tisch postiert, ging im Zimmer umher und zündete alle Kerzen an, bis es so strahlend hell war wie bei einer Hochzeit. ›Komm, komm, Louis‹, sagte er, ›ich hätte dich gern teilnehmen lassen, aber ich weiß, du triffst lieber deine eigene Wahl. Zu schade, daß Mademoiselle Freniére mit brennenden Laternen zu werfen pflegt. Das macht ein Téte-á-téte ungemütlich, nicht wahr, besonders in einem Hotel.‹ Er setzte die Blonde so, daß ihr Kopf an der damastenen Rückenlehne des Stuhls lag; die Dunkle ließ das
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